"Der Zauberberg": Die Gesellschaft ist krank
Mit Nonchalance am Abgrund: 100 Jahre nach Erscheinen – was hat uns Thomas Manns Jahrhundertroman heute über unsere Abgründigkeiten zu sagen?
Kein anderes Buch war in meinem Leben so wichtig wie "Der Zauberberg''.
Susan Sontag, 2003
Es ist das Buch des Jahrhunderts. Nicht James Joyce' "Ulysses", nicht Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" und auch nicht Musils "Der Mann ohne Eigenschaften", sondern Thomas Manns "Der Zauberberg", der vor 100 Jahren, am 28. November 1924 erschien.
Fest des Todes mit Champagner
Die Handlung des Romans kreist um seine Hauptfigur Hans Castorp. Castorp, ein früh verwaistes Großbürgerkind, angehender Ingenieur mit gepflegten Manieren und der vorerst letzte Spross einer traditionsreichen Hamburger Familie, besucht seinen lungenkranken Vetter im Schweizer Sanatorium "Berghof".
Aus dem Kurzbesuch – "er kam für drei Wochen" heißt es im Roman – wird ein siebenjähriger Aufenthalt, da sich der noch ungeformte 24-Jährige nicht der Faszination für die morbide Gesellschaft und dem Sog des entrückten Berghofs widerstehen kann.
Die feiert und inszeniert ein permanentes Fest des Todes, durch das Castorp sich selbst seelisch und geistig wachsen sieht; ein Reifeprozess von einer Intensität, die ihm die bürgerliche Gesellschaft nie bieten könnte.
Zudem sind die Verhältnisse wohl ausgestattet: Der Champagner fließt in Strömen.
Zentral im Roman sind einerseits die Gespräche: über Zeit, Moral, Sinnlichkeit, radikale Gesinnung, insbesondere in den Rededuellen zwischen Lodovico Settembrini, einem italienischen Humanisten, und dem zum Katholizismus konvertierten Juden, Jesuiten und Kommunisten Leo Naphta, die in ein reales Duell mit tödlichem Ausgang münden.
"Die ganze abendländische politisch-moralische Dialektik"
Diese beiden intellektuellen Antipoden, zwischen denen Castorp hin- und hergerissen wird, verstärken einen zentralen Aspekt: "Der Zauberberg" ist ein klassischer Bildungsroman, im Aufbau gestaltet grob dem großen Vorbild von Goethes "Wilhelm Meister" folgend, wie zugleich auch dessen moderne Ironisierung.
In seiner biografischen Abhandlung "Meine Zeit" von 1950 erweitert Thomas Mann die Dimension des "Zauberberg" zu einem "Menschheitsbuch" und "humanistischen Denkwerk", in dem "die ganze abendländische politisch-moralische Dialektik" entfaltet worden sei.
In der Rückschau wird das Werk als "pädagogischer Disput um eine Seele, die Seele des Abendlandes" gedeutet. In dieser Interpretation ist Hans Castorp die zentrale Symbolfigur dieses Okzidents.
Die Hierarchie der Krankheit
Eros und Thanatos wechseln sich ab in den Beschreibungen der allzu regelmäßigen Sterbefälle, und der größtenteils eingebildeten Liebschaft zwischen Castorp und der schönen Russin und Femme Fatale Clawdia Chauchat.
Liebevoll detailiert, zugleich ironisch distanziert beschreibt Mann die gesamte Palette menschlicher Schwächen, lässt die Menschen sogar in ihrer Unglaubwürdigkeit und im übertriebenen Pathos glaubwürdig werden, zeigt das Rang- und Ränkespiel um die Hierarchie der Krankheit bis hin zur Eitelkeit im Tode und die Sucht nach der Atmosphäre auf dem Berghof rund um den väterlich-diktatorischen Chefarzt des Sanatoriums Hofrat Behrens.
Im Rausch nach der Ablenkung entfernt sich die Welt "unten im Tal" mit ihren politischen und gesellschaftlichen Problemen immer mehr vom Berghof.
Auslöser des Romans war eine Reise Manns nach Davos in die Schweizer Alpen. Genau für drei Wochen, wie sein Held Hans Castorp im Roman. Der Schriftsteller besuchte im Jahr 1912 seine Frau Katja, die in einem Sanatorium eine Lungenkrankheit auskurierte und ihm in Briefen vom Alltag in der Heilanstalt und den Eigenheiten und Schrullen ihrer Mitpatienten berichtet hatte.
Fasziniert von der Atmosphäre und den Menschen im Sanatorium begann Thomas Mann ein Jahr später die Arbeit am "Zauberberg".
Ewigkeitssuppe, Epoche und Relativitätstheorie
Der "Zauberberg" ist nach Thomas Mann im doppelten Sinne ein Zeitroman: "Einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist."
Er erzählt von einer Epoche und von der Zeit und ihrem Vergehen. Im "Zauberberg" ist die Zeit nicht nur in Kapiteln wie "Exkurs über den Zeitsinn" oder "Ewigkeitssuppe und plötzliche Klarheit" Thema der Erzählung, sondern auch ihr Medium.
Sieben Kapitel hat das Buch, so wie die sieben Tage, die Gott zur Erschaffung der Welt benötigte, sieben Jahre verbringt Hans Castorp auf dem Berghof, sein Zimmer hat die Nummer 34, deren Quersumme sieben lautet.
Offensichtlich ist der Einfluss von Albert Einsteins Relativitätstheorie: Hans Castorp reflektiert zunächst über die Eigenart seines neuen Zeitsinns auf dem Berghof: "Was sich als wahre Form des Seins dir enthüllt, ist eine ausdehnungslose Gegenwart."
Später dann wandelt sich das. Die Zeit kann hier nicht mehr als "ausdehnungslose Gegenwart" verstanden werden, sondern nur als unendliche Wiederholung: "Das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt, das Dort im Hier."
"Der heilige Terror, den unsere Zeit bedarf"
Die Zeitlosigkeit im Zauberberg ist der nihilistische Zustand der Epoche. Die Erlebnisse der im doppelten Sinn blassen und unschuldigen, an den "reinen Tor" Parzifal erinnernden Hauptfigur Hans Castorp sind also auch eine Parabel für den Zustand der Epoche – der historischen des Europas vor dem Ersten Weltkrieg, der "Welt von Gestern" zwischen 1907 und 1914, sowie der Epoche des Erscheinens des Romans, der nihilistischen, "sachlichen" Zwanziger Jahre.
Es geht in diesem Buch darum, einen Nukleus Europas im Kleinen darzustellen, das natürlich das Europa vor dem Weltkrieg war, noch mehr aber auch das der Situation nach ihm. In seinem Vorsatz schreibt Thomas Mann, alles sei sehr weit weg – das ist aber nur die halbe Wahrheit.
So ist der Zauberberg Geschichtsphilosophie pur, Thomas Manns Phänomenologie des Geistes seiner Epoche.
All das ist nach wie vor außerordentlich gegenwärtig: Die zentralen menschlichen Fragen nach Liebe und Tod, Gesundheit und Krankheit, Zivilisation und Natur, nach dem Sinn von allem und nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft sind Fragen von heute, ebenso Eskapismus und Realitätsflucht.
Und wenn Naphta irgendwann sagt: "Nur aus der radikalen Skepsis, dem moralischen Chaos, geht das Unbedingte hervor, der heilige Terror, den unsere Zeit bedarf", dann baut er auf politischer Ebene einen neuen Berghof mit den Bausteinen der Verzweiflung, des Selbstmitleids und ihrer Pendants: des Fanatismus, des Hasses und der (Selbst-)Zerstörung, der im "Mummenschanz" (Th. Mann) des Faschismus nur einen Ausdruck findet, seinen aktuellen aber in den politischen Fundamentalismen und Terrorismen unserer Gegenwart.
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Der drohende Fleischwolf des Zeitgeists
Thomas Mann (1875 – 1955), der wichtigste deutschsprachige Schriftsteller (mindestens) des 20. Jahrhunderts, ist schwer zu fassen – zu facettenreich ist sein Werk, das künstlerisch wie politisch immens einflussreich war.
Der Schriftsteller und Nobelpreisträger von 1929 war Künstler und politischer Mensch, als Emigrant Zentralfigur des deutschen Exils, und als Autor Repräsentant des anderen Deutschland.
Im Jahr 2025 wird die literarische Welt seinen 150. Geburtstag feiern. Es ist vorauszusehen, dass hier der Autor und sein Werk durch den Fleischwolf des Zeitgeists gedreht und kleingehäckselt werden, zugerichtet auf modisch-kleingeistige Theorien der Identitätspolitik, auf die Frage der Geschlechterrollen bei Thomas Mann.
Insbesondere auf die "Queerness" des Autors, auf die von ihm selbst zugegebene und durch viele Texte hindurchscheinende Bisexualität, die manche als Homosexualität fixieren und manche als Pädophilie pervertieren wollen: Der Mann, der mit seiner Ehefrau Katja sechs Kinder zeugte, interessierte sich auch für junge Knaben.
Die Erinnerung an das Erscheinen des "Zauberberg" bietet bereits vorab Gelegenheit, den Autor gegen derartige willkürliche Umdeutungen und einseitige Interpretationen in Schutz zu nehmen. Zumal alles dies nur Ablenkungsunternehmen sind, um die ästhetische Beschäftigung mit dem komplexen Werk zu umgehen.
Respekt haben vor der Bürgerlichkeit Thomas Manns, vor dem Wunsch, Normalität zu leben
Man sollte Respekt haben vor der Bürgerlichkeit Thomas Manns, vor dem Wunsch Normalität zu leben und von der Welt auch so gesehen und respektiert zu werden, eine Lebensform, zu der sich Thomas Mann durchaus frei und nach eigenen Prioritäten entschied – denn er war eben längst nicht nur ein verkappter schwuler Schriftsteller, sondern vor allem ein bürgerlicher, zwar politisch linksliberaler, andererseits in vielem auch kulturkonservativer Mensch.
Keineswegs konnte Thomas Mann nicht leben, was er leben wollte; keineswegs hat er "nur eine Fassade" aufgebaut, jedenfalls nicht dann, wenn man unter Fassade ein Lügenprogramm und etwas grundsätzlich Falsches versteht.
Wie bei Felix Krull, seinem literarischen Alter Ego und der unter seinen Romanfiguren, die ihm persönlich am nächsten ist, war die Hochstapelei auch bis zu einem bestimmten Grad das Wesen des Schriftstellers Thomas Mann.
Es gibt keinen Grund, Thomas Mann "vom Sockel zu stürzen", oder "gegen den Strich" zu lesen und zu bürsten. Er darf und sollte auf dem Podest stehen bleiben, das ihm gebührt.
"Wo ich bin, ist Deutschland", sagte Thomas Mann nach 1933 im Exil. Er und seine Familie waren in dieser Zeit "des Medusenhaupts des Hitlerismus" (Th. Mann) in vieler Hinsicht ein paar Jahre lang tatsächlich die deutsche Familie schlechthin, sie für sich waren "Das andere Deutschland".
Thomas Mann ist archetypisch für den Schriftsteller des bürgerlichen Zeitalters; ja: für die Idee von Bürgerlichkeit. Eine universale Idee, die dem demokratischen Zeitalter und der Demokratisierung entstammt und insofern weiterhin für unsere Gegenwart und unsere Zukunft das Muster vorgibt.
"Eindruck, dass dies Land dem Wahnsinn in die Arme taumelt"
Manns Beziehungen zu seinen zwei Heimatländern, zu den Deutschen und zu den USA waren problembehaftet. Für Deutschland wünschte er, dass wir uns zu "einem europäischen Deutschland statt eines deutschen Europa" bekennen.
Über die USA schrieb er, und auch das könnte aktueller nicht sein:
Eindruck, dass dies Land dem Wahnsinn in die Arme taumelt. Dabei hängt die Welt von ihm ab.
Literatur- und Filmhinweise:
Theodor W. Adorno: "Zu einem Portrait Thomas Manns"; in: Noten zur Literatur III.; Frankfurt 1965
arte: "Der Zauberberg: Thomas Manns Jahrhundertroman" (in der Mediathek)
Karl Heinz Bohrer (Hg.): "Kein Wille zur Macht. Dekadenz"; Sonderheft Merkur September Oktober 2007; Stuttgart 2007
Barbara Eschenburg (Hg): "Thomas Manns Der Zauberberg: Fiebertraum und Höhenrausch"; 2024
Hans Geißendörfer: "Der Zauberberg"; dreiteiliger Fernsehfilm, BRD 1982
Heinz Strunk "Zauberberg 2"; Rowohlt Verlag, Hamburg 2024
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