Zwischen Markt und Moral

Im Bundestag führte man eine Debatte um Gentechnik, die wichtigen Themen wurden aber nicht diskutiert

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Wenn die sogenannte rote Gentechnik bisweilen auch überschätzt wird, so stellt sie inzwischen doch einen bedeutenden Teil der modernen Humanmedizin dar. Schwerer als die aktuelle Situation in Forschung und Pharmaindustrie wiegen die vielfältigen Chancen der neuen Technik. Diese Erkenntnis hat sich auch im Bundestag durchgesetzt, und so befassten sich die Fraktionen am Donnerstag erstmals in einer gemeinsamen Debatte mit dem schweren Stoff.

Schon in den vergangenen Wochen hatte das Thema die Schlagzeilen beherrscht. Wusste die eine Redaktion von einer Entzweiung der CDU in der Frage, so sahen die Kollegen aus anderem Hause gar "ganz Deutschland" gespalten. Eine solche Polarisierung zwischen Skeptikern und Befürwortern der neuen Möglichkeiten war im Bundestag offensichtlich, auch innerhalb der Fraktionen, doch wurde bei der Debatte "Recht und Ethik der modernen Medizin und Biotechnologie" vor allem klar, dass nichts klar ist. Immerhin gestanden mehrere Redner, unter ihnen SPD-Fraktionchef Peter Struck und Amtskollege Roland Claus von der PDS, die Ratlosigkeit der Volksvertreter im Umgang mit der Materie ein.

Im Mittelpunkt der Debatte stellten die Parlamentarier erwartungsgemäß die wissenschaftliche Nutzung künstlich befruchteter Eizellen und die sogenannte Präimplantationsdiagnostik, die PID. Bei der PID wird die Blastozyste (Eizelle wenige Stunden nach der Befruchtung) auf mögliche genetische Schäden untersucht. Im Fall einer positiven Diagnose könnten die Eltern eine Austragung des Kindes ablehnen. Zum weiteren Streitpunkt entwickelte sich der Umgang mit überzähligen Blastozysten, bzw. der entstehenden Embryonen. Sie fallen in Deutschland in geringem Maße im Rahmen der künstlichen Befruchtung an, bei der der Frau mehrere Eizellen entnommen werden.

Zur scheinbar unüberwindbaren Hürde wurde die Frage, ab welchem Zeitpunkt der Embryo als menschliches Leben definiert und somit zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen tabu wird. Die Ironie der Geschichte ist, dass gerade der ehemaligen Gesundheitsministerin Andrea Fischer es oblag, als eine der ersten Rednerinnen für ihre Partei zu sprechen. Das Privileg war dem Umstand geschuldet, dass sich keine Minister an der Debatte beteiligten. So sollte eine möglichst offene Diskussion gewährt werden. Fischers Forderung nach "einer möglichst breiten Diskussion in der Gesellschaft" schlossen sich zahlreiche Nachredner, auch der Bundeskanzler, an. Eine biologische Grenze sei zur Beantwortung der Frage nach dem Umgang mit Embryonen nicht auszumachen, so auch Fischer, die am Ende ihrer Rede auf "das Recht zur Selbstbeschränkung" hinwies.

Ähnliche Bedenken äußerte Monika Knoche, Mitglied der Enquete-Kommission "Recht und Ethik in der modernen Medizin", die eine besondere Verantwortung der Gesellschaft für den entnommenen Embryo einforderte. Bis zur Etablierung der In-vitro-Fertilisation, der Befruchtung im Reagenzglas, habe der Mutterleib das heranwachsende Kind geschützt. Mit der Entleiblichung des Prozesses werde die Gesellschaft in die Verantwortung genommen, die den Schutz des Embryos gewährleisten müsse. Die Frage moderner Medizin sei "umso mehr eine Frauenfrage", so Knoche. Auf Zustimmung stieß die Grüne damit bei der PDS-Abgeordneten Pia Maier, die etwas unglücklich formuliert forderte: "Die Frau muss wieder Herr ihres eigenen Körpers werden."

Einzig mit dem Beitrag des CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz drohte die ansonsten recht besonnen geführte Debatte zum gewohnten politischen Schlagabtausch zu werden. Er nutzte die Redezeit für scharfe Attacken gegen Gerhard Schröder. Vor allem der von Schröder zum Ziel erkläre "Nationale Ethikrat" stand im Merz' Visier, trage er doch zu einer "schleichenden Entparlamentarisierung des Bundestages" bei. "Ich hoffe", so Merz, "dass diese Debatte nicht nur eine Alibifunktion hat." Im Übrigen solle die PID wie alle neuen Möglichkeiten in der Medizin "im Einklang mit Gott und dem Menschen" geschehen.

Deutlich vorsichtiger als in den vergangenen Wochen gab sich der Adressat selber. Der Bundeskanzler erklärte, es habe nie in seiner Absicht gestanden, den Nationalen Ethikbeirat zu einer Art Ersatzparlament zu machen, lediglich den Rat der Experten hätte er sich sichern wollen. Inzwischen ist das Gremium in "Ethikbeirat" umgetauft. Unerwartet klar stellte sich Schröder nach seinen jüngsten Äußerungen hinter bestehende gesetzliche Regelungen. Das Embryonenschutzgesetz von 1991 setze wichtige Beschränkungen, "und dabei sollte es bleiben". Jedoch: Überzählige Eizellen aus der künstlichen Befruchtung sollten der Wissenschaft, ähnlich wie in Großbritannien, zur Verfügung gestellt werden. Der Kanzler versuchte die Wogen zu glätten. Alles in allem, so Schröder, sei die PID überbewertet, "weil hier keine genetisch veränderten Menschen gezüchtet werden". Bei der Methode würden ähnliche Maßstäbe gesetzt werden, wie bei herkömmlichen Schwangerschaftsabbrüchen. Bei allen Bedenken müssten in der Debatte auch die Folgen des Unterlassens in Rechnung genommen werden.

Geschickt schaffte es der Bundeskanzler, die von ihm unlängst selber angestoßene Debatte über die wirtschaftliche Nutzung der neuen Technologie nicht explizit zur Sprache zu bringen. Das Thema wurde von dem FDP-Politiker Wolfgang Gerhardt angeschnitten. Trotz aller Bedenken dürfe der Kinderwunsch von unfruchtbaren Paaren nicht missachtet werden, so Gerhardt, der "die Belange der Menschen ins Zentrum der Politik" stellen will. Die Diskussion um den Nutzen von Gentechnik in der modernen Medizin müsse maßstäblich geführt werden, und "die einzige Kategorie kann nur der ärztliche Hilfsauftrag sein". Schließlich dürfe man nicht erwarten, dass im Bundestag der Missbrauch neuer Technologien verhindert werden könne.

Nur wenigen Rednern schien klar zu sein, dass die Debatte der Realität hinterherhinkt. Allein der ehemalige Justizminister Ezard Schmidt-Jortzig ging in die Offensive, als er erklärte: "Die Hände in Anbetracht der ethischen Bedenken in Unschuld zu waschen, ist reichlich realitätsfern." Zu weit fortgeschritten sei die moderne Medizin, und das nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende des Lebens. Innerhalb dieses Spektrums könne man derzeit nur auf einen Flickenteppich verschiedener provisorischer Regelungen blicken.

Auch die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel meinte spätestens in der PID einen Dammbruch zu erkennen, "wenn der nicht schon bei der pränatalen Diagnostik auszumachen ist". Durch die Kontrolle des Erbgutes werde Behinderten in unserer Gesellschaft das Signal gegeben, nicht willkommen zu sein. Zur Lösungsfindung bat sich Merkel mehr Zeit aus und schlug ein Moratorium vor .

Wenig Konkretes gab es also im Bundestag. Während sich Redner aus den Reihen der CDU/CSU auf christliche Ethik beriefen und gentechnische Eingriffe ablehnten, wollte Peter Struck nicht die Verantwortung übernehmen, "einem nach Luft ringenden Kind mit Mucoviszidose erklären zu müssen, warum ihm aufgrund ethischer Bedenken nicht geholfen werden konnte". Unbeantwortet blieben vor allem akute Fragestellungen, wie etwa der von der Deutschen Forschungsgesellschaft in Erwägung gezogene Import von embryonalen Stammzellen, um den Anschluss an die Forschung wissenschaftlicher und privatwirtschaftlicher Institutionen der in der Materie liberaleren Nachbarländer nicht zu verlieren. Mit den embryonalen Stammzellen versprechen sich Zellbiologen die vereinfachte Zucht von bestimmten Gewebearten, etwa für Nerven, Haut oder Niere.

Auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik, Karl Sperling, prophezeite im Gespräch mit Telepolis einen solchen Marktdruck, der vor allem entstehen könnte, wenn künstliche Befruchtung und PID sich künftig verstärkt ergänzten. Bislang führten nämlich nur 20 Prozent der Laborbefruchtungen tatsächlich zu einem Kind. Durch einen präimplantativen Eingriff könnten die Chancen erheblich verbessert werden, so Sperling. Er forderte vom Bundestag klare Maßstäbe ein, in denen sich Forschung bewegen könnte. Die deutsche Wissenschaft sei aufgrund der historischen Vorbelastung schließlich in einer besonders schwierigen Lage. Sie könne auf der einen Seite keine Tabus brechen, dürfe andererseits aber auch nicht den Anschluss an die internationale Forschungsgemeinde verlieren. Eine mögliche Lösung sieht der Humangenetiker bei der präimplantativen Diagnostik in einer größeren Transparenz.

Gerade die Möglichkeiten des europäisierten Marktes könnte die ganze als "historisch" bezeichnete Debatte des Bundestages ad absurdum führen. Zu leicht können Paare (das nötige Kleingeld vorausgesetzt) schon heute in Nachbarländer fahren und bislang in Deutschland verbotene Eingriffe vornehmen lassen. Stammzellen oder aus ihnen entstandene pharmazeutische Produkte bahnen sich ihrerseits bereits den Weg in bundesdeutsche Labore. Der Markt kennt eben keine Ethik. Umso sinnloser wirkten die moralischen Abwehrkämpfe, von denen die Debatte dominiert wurde.