Zwischen Mode und Moderne
Ist ein Kopftuchverbot reaktionär?
Der Versuch, das Tragen von Kopftüchern per Gesetz zu verbieten, ist ein zutiefst unmodernes Ansinnen. Findet Barbara Vinken, ihres Zeichens Literaturwissenschaftlerin, die sich hierzulande auch als Modetheoretikerin einen Namen gemacht hat und deshalb bei den Fashion Talks im Berliner Museum für Kommunikation zu Gast war. Schließlich hat die Mode viel raffiniertere Techniken entwickelt, um Regeln zu brechen, Zuschreibungen aller Art umzudeuten und Identitäten neu zu definieren. Anders ausgedrückt: in Zeiten von Dresscodes a la "Anything goes" ist ein Kopftuchverbot ebenso reaktionär wie die Vorschrift, ein Kopftuch zu tragen.
Die Heftigkeit, mit der hierzulande über das Kopftuch und seine Trägerinnen gestritten wird, ist ein klares Indiz dafür, dass hier ein neuralgischer Punkt getroffen wurde. Also muss man fragen: Was genau wird da verhandelt? Selbst wenn man nicht in den Chorus derer einfallen möchte, die angesichts von Kopftüchern in deutschen Fußgängerzonen den Untergang des Abendlandes wittern, so geht es doch zumindest um unser Frauenbild, unser Verständnis von Moderne, Freiheit und Öffentlichkeit. Und diese Debatte wird ausgetragen auf dem Körper von Frauen. Die Frage nach der religiösen Dimension hat Vinken ganz bewusst ausgeblendet: zu heikel, außerdem galt ihr Augenmerk dem Kopftuch im Kontext von Mode und Moderne.
Dass die Verschleierung per Gesetz verboten wird, dass also eine 'moderne Kleiderordnung' von oben herab verordnet wird, ist hierzulande ein Novum. Eine Neuerung, die ihrem Wesen nach zutiefst unmodern ist und im Widerspruch zu unserem modernen Selbstverständnis steht. Schließlich wurden die so genannten Kleiderverordnungen bereits durch Ludwig XIV. (1638-1715) abgeschafft. Erlaubt ist, was gefällt.
Nun scheint ausgerechnet das Kopftuch zum modischen Accessoire für die moderne Frau zu avancieren. Im Frühjahr 2011 warb das Kaufhaus Bloomingdale's auf zahlreichen Werbeflächen in New York City mit dem Slogan 'Get Scarfed!' für die vielseitigen Quadrate, die man sich nicht nur um den Kopf, sondern auch um den Leib schlingen oder als neckische Schleife an der Handtasche tragen kann. Dabei spielte die Wortschöpfung 'scarfed' ['skɒrfd] mit den Begriffen 'scared' (['skɜrd] sich ängstigen) und 'scared' (['skɒrd] scar, Narbe), vgl. z.B. rituelle Narben bei afrikanischen Stämmen). Man kann sich angesichts von Kopftüchern also wahlweise ängstigen, bzw. anderen durch schieres Tragen derselben einen Schrecken einjagen oder aber das Kopftuch ähnlich wie rituelle Narben als Stammeszeichen tragen und einen neuen Code generieren, eine neue Sprache, die jedoch gar nicht so neu ist, denn schließlich ist das Kopftuch per se ein alter Hut. Apropos Hut: jahrhundertelang durften nur Damen Hut tragen. Bäuerinnen, Mägde, Zofen und andere Angehörige der niederen Stände hatten barhäuptig zu bleiben oder mussten sich mit schlichten Tüchern und Hauben begnügen.
Trotzdem hat Karl Lagerfeld nach wie vor Recht, wenn er sagt: "Der Mode entkommt man nicht". Egal, ob man sich in feinen Zwirn oder in grobes Leinen hüllt, ob man seine Reize zur Schau stellt oder verhüllt. Alles ist ein Statement. In Sachen Mode gibt es keine Neutralität. Schon in der Frühgeschichte des Menschen gab es Herrschaftszeichen, Schmuck und Ornament. Jahrhundertelang war die Farbe Purpur den Herrschern vorbehalten, in der katholischen Kirche gelten noch heute strenge Regeln für das Tragen dieser Farbe.
In Deutschland und anderen westlichen Ländern kann sich heutzutage theoretisch jeder kleiden, wie er will. Praktisch jedoch gibt es auch hier Grenzen, Grenzen des Anstands zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, wieviel Haut man zeigen darf (Sarah Connor bei "Wetten, dass..?"), Grenzen des so genannten guten Geschmacks (Lady Gaga im Fleisch-Bikini bei den MTV Music Awards) bzw. der Moral ('Lieber nackt als im Pelz' Kampagne der PETA), die Reihe ließe sich endlos fortführen, wenn man genau hinschaut und sich bewusst macht, was alles nicht geht in unserem angeblich so freien Land.
Die Geschichte der modernen Mode beginnt grob gesagt mit der Französischen Revolution. Revolutionär gesinnte Aristokraten wie Philippe Égalité (eigentlich: Louis-Philippe II. Joseph de Bourbon, duc d’Orléans) verzichteten auf Kniebundhosen (Culottes) und raffinierte Seidenstrümpfe und schlüpften stattdessen in knöchellange Beinkleider. Damit begann nicht nur der Aufstieg des Anzugs zur allgemein akzeptierten Uniform des Mannes, sondern auch die Enterotisierung des männlichen Körpers. Jahrhundertelang posierten Herrscher in Strumpfhosen und stellten ostentativ ihre Männlichkeit zur Schau: Beine, Po, Geschlechtsteil wurden - unterstützt von markanten Details wie der so genannten Schamkapsel - ostentativ in Szene gesetzt.
Inzwischen haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Die hautenge Hose dient der Zurschaustellung weiblicher Reize, bei Männern gilt sie grosso modo als schwul. Im Westen haben Frauen die freie Wahl zwischen Rock und Hose, Männerröcke dagegen sind bis heute die Ausnahme. Überhaupt haben Frauen bei der Wahl ihrer Garderobe weitaus größere Ausdrucksmöglichkeiten als Männer, für die seit der französichen Revolution das Gebot der Schlichtheit gilt. Der mehr oder weniger austauschbare Anzug in gedeckten Farben soll keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Wesentlich ist das Gesicht, hier kommt das Individuum zum Ausdruck, und nicht in der Kleidung. Überhaupt wird nur dort Haut gezeigt, wo unbedingt nötig: Gesicht, möglichst wenig Hals (Stichwort Krawattenzwang), Hände. Wer im beruflichen Umfeld zuviel nackte Haut zeigt, wird nicht für voll genommen. Nicht zuletzt deshalb achtet der Herr von Welt darauf, dass beim Übereinanderschlagen der Beine keine Waden hervorblitzen.
Das Wechselspiel von Verhüllen und Enthüllen ist seit Adam und Eva das zentrale Thema der Mode, eng damit verbunden die Erotisierung der Körper sowie die Zuschreibung von Geschlechterrollen. Die Mode der Moderne trennt nicht mehr die Stände, sondern die Geschlechter.
Frauen vorzuschreiben, was modern ist und was nicht, wieviel sie von ihrem Körper zeigen sollen und was verhüllt werden muss, ist ein Eingriff in ihr Recht auf Selbstbestimmung. Denn was wäre der Mehrwert einer Freiheit, die es Frauen vorschreibt, mehr von ihrem Körper zu zeigen als ihnen selbst lieb ist? Ohne Kopftuch fühle sie sich nackt, so Fereshta Ludin, die den Schuldienst in Baden-Württemberg quittieren musste, weil sie partout nicht verzichten wollte auf ihre Kopfbedeckung (Original-Artikel im taz-Archiv kostenpflichtig, gratis hier zu finden). Für Ludin - und viele andere Muslima - ist das Kopftuch kein Zeichen für Unterdrückung, sondern im Gegenteil ein Zeichen für Emanzipation. Denn durch das Kopftuch entziehen sie sich der für selbstverständlich genommenen Sexualisierung von Frauen in der Öffentlichkeit.
Um zu beweisen, wie einfältig die Fixierung auf weibliche Kopfbedeckungen ist, greift die anonyme Künstlerin Princess Hijab zur Spraydose und verhüllt zur Abwechslung auch mal die Häupter von männlichen Unterwäschemodels.
Andere Provokationskünstler gehen noch einen Schritt weiter und schickten zwei junge Damen in Highheels durch die Straßen von Paris - einzig bekleidet mit einer Niqab, einem Gesichtsschleier also, der für sich getragen mehr einem aufreizenden Babydoll als einem keuschen Schleier gleicht. Die beiden NiqaBitches suchten all jene Orte auf, die für das Verbot von Kopftüchern in Frankreich stehen und erregten mit ihrer spärlichen Bekleidung reichlich Aufsehen.
"Mode", so Barbara Vinken in einem Interview, "besteht darin, die Eindeutigkeit von Symbolen aufzulösen." Deshalb ist es an der Zeit, das Kopftuch von seiner einfältigen Festlegung auf eine vermeintlich religiöse Aussage zu befreien und als das zu nehmen, was es ist: ein Stück Stoff, aus dem jeder machen kann, was er will.