"pro perfidis Judaeis"
Wird der deutsche Papst die antijüdische Karfreitagsfürbitte der tridentinischen Liturgie zum Teil wieder zulassen?
Bis zum Karfreitag 2008 wird noch etwas Zeit vergehen, Zeit genug jedenfalls, um in der römischen Kirche eine wichtige Frage zu klären und einem nicht ausdenkbaren Skandal vorzubeugen. Mit seinem Motu Proprio Summorum Pontificum vom 7. Juli 2007 hat der Papst die Ausnahmen für den Gebrauch der alten tridentinischen Messliturgie in der Fassung von 1962 erheblich erweitert. Damit wäre auch ein Überrest der antisemitischen Karfreitagsfürbitte aus dem Mittelalter wieder rehabilitiert. Geklärt ist der Kasus – trotz der Einsprüche aus jüdisch-christlichen Dialogkreisen – zur Stunde immer noch nicht. Traditionalistische Katholiken und Gegner des Vatikanischen Reformkonzils brennen offenbar darauf, wieder für die „Bekehrung der ungläubigen Juden“ zu beten. Sollten sie dabei ausgerechnet von einem Papst aus Deutschland Rückendeckung erhalten?
Bereits zu Ostern dieses Jahres, also schon vor Veröffentlichung des besagten Apostolischen Schreibens, hat der Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) in einerStellungnahme auf den drohenden Skandal aufmerksam gemacht. Die 16 Katholiken und 14 Juden des Kreises legen überzeugend dar, warum auch die abgeschwächte Karfreitagsfürbitte „Für die Bekehrung der Juden“ (Pro conversione Iudaeorum) mit dem im 20. Jahrhundert beschrittenen Versöhnungsweg unvereinbar ist. Sie „hoffen, dass Papst Benedikt XVI. diese Beschädigung der christlich-jüdischen Beziehungen nicht zulassen wird“.
Außerdem erinnern die Verfasser der Stellungnahme daran, dass durch die Rehabilitation der alten Leseordnung die hebräische Bibel in einer Weise missachtet wird, die an judenfeindliche Häretiker aus der alten Kirche erinnert. Mitnichten geht es bei diesen beiden Fragen um einen Streit um das Latein, welches in der katholischen Kirche ja auch nie abgeschafft oder gar verboten worden ist. Es geht um Inhalte und Grundhaltungen!
Tatsächlich sind die „heiligen drei Tage“ der alten Kar-Liturgie nach der neuen Regelung nur für die private Priestermesse (ohne Gemeinde!) von der Wiederzulassung ausgenommen. In einer tridentinischen Karfreitagsliturgie mit so genannten „Laien“ wäre die feierliche Bitte um die Bekehrung der Juden also wieder zulässig. In Rom erwägt man derzeit lediglich, dies vielleicht abzuändern. In der jüngsten Ausgabe der ZdK-Zeitschrift „Senfkörner“ schreibt Prof. Albert Gerhards, Ordinarius für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn:
Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone den Verzicht auf die Bekehrungsbitte für die Juden im alten Missale in Betracht zieht, ganz im Sinne der Erklärung des ZdK vom April 2007. Weniger erstaunlich ist, dass die besagte Erklärung bereits heftige Erwiderung aus dem konservativen Lager gefunden hat.
Die Karfreitagsfürbitte „für die perfiden Juden“ in der alten Form
Sogar für „Heiden“, „Götzendiener“ oder „Abtrünnige“ beugt man in der katholischen „oratio universalis“ am Karfreitag die Knie. Einzig und allein beim Gebet für die Juden unterließ man Jahrhunderte lang die Kniebeuge. In der seit 1570 gebräuchlichen, tatsächlich aber z.T. ins erste Jahrtausend zurückreichenden Form der antisemitischen Karfreitagsfürbitte hieß es:
Oremus et pro perfidis Judaeis … (Lasset uns beten für die perfiden Juden).
„Perfidia“ übersetzt man nicht nur mit „Unglaube“, sondern auch mit „Treulosigkeit“ oder „Unredlichkeit“. Das entsprechende Adjektiv „perfidus“ kann zusätzlich auch die Bedeutung von „wortbrüchig“ oder „tückisch“ beinhalten. Es ist erst für 1960 durch päpstliche Weisung gestrichen worden. Die restlichen Teile des mittelalterlichen Textes blieben aber weiterhin Bestandteil eben jener Liturgie, die – wenn Rom sich nicht besinnt – vor dem nächsten Osterfest wieder ertönen wird. Im Missale Romanum von 1962 ist nämlich immer noch von der „Verblendung“ (obcaecatio) und „Finsternis“ (tenebrae) der Juden die Rede:
Lasset uns beten für die Juden: Gott, unser Herr, möge den Schleier von ihren Herzen wegnehmen, auf dass auch sie unseren Herrn Jesus Christus erkennen. Allmächtiger ewiger Gott … erhöre unsere Gebete, die wir ob der Verblendung jenes Volkes vor dich bringen: mögen sie … ihrer Finsternis entrissen werden.
Noch 1928 landeten Gegner der Karfreitagsbitte vor der Inquisition
Wie der katholische Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf vor einigen Jahren herausgefunden hat, gab es bereits 1928 eine Initiative zur Abschaffung der judenfeindlichen Karfreitagsfürbitte. In eben jenem Jahr baten die „Freunde Israels“ (Amici Israel), eine katholische Vereinigung von 3.000 Priestern, 328 Bischöfen und 19 Kardinälen, angesichts des wachsenden Antisemitismus um eine Reform der tradierten Liturgie.
Einen Gutachter, den Benediktinerabt und später selig gesprochenen Kardinal Alfred Schuster (1880 - 1954), konnten sie davon überzeugen, dass das „perfidus“ unhaltbar ist. Doch der päpstliche Hoftheologe Sales meinte, da könne ja jeder kommen. Kardinal Merry del Val, Sekretär der Inquisition, verlegte sich sogar auf den von ihm selbst verbal abgelehnten Antisemitismus. Er argumentierte, die Juden könnten Israel wieder aufbauen und dann die Kirche vernichten, und sie seien ohnehin in öffentlichen Ämtern und Parlamenten schon zu mächtig. Die Petition wurde abgelehnt. Die Bittsteller mussten sogar vor der Inquisition abschwören! Die „Amici Israel“, die man in der katholischen Kirche nach 1928 so dringend gebraucht hätte, wurden von Rom wegen ihrer „philosemitischen“ Initiative ganz verboten.
Übrigens gehörte vor 1928 auch der Münchner Erzbischof Michael von Faulhaber den „Freunden Israels“ an. Selbst ein solcher Kirchenmann konnte dann unter dem Nazi-Regime schnell kalte Füße bekommen. Die deutsche Bischofskonferenz deklarierte nur fünf Tage nach der „Ermächtigung“ das Hitlerregime als rechtmäßige Obrigkeit, der Gehorsam zu leisten sei, und entschied sich gegen eine offene Solidarisierung mit den Juden. Kardinal Faulhaber klagte 1933, man gehe „jetzt förmlich hausieren mit Mitleid für die getauften Juden“; der Glaube nütze aber zum ewigen Leben, und niemand dürfe „von der Taufe irdische Vorteile erwarten“.1
Der „Judas-Jude“ in der Volksfrömmigkeit zur Karwoche
Zur wirkungsgeschichtlichen Betrachtung der alten Karfreitagsfürbitte für (bzw. gegen) die Juden müsste man nicht nur die Liturgiewissenschaft, sondern auch die so genannte „Volkskunde“ heranziehen. Volksfromme Schauermärchen über Juden, die Christenkinder entführen, mästen und dann zu rituellen Zwecken ermorden, sind in Hülle und Fülle überliefert. Oftmals sind aus diesen antisemitischen Phantasien volksfromme „Bräuche“ wie Prozessionen oder Wallfahrten hervorgegangen. Die Nazis haben nicht wenige Formen öffentlicher Religionsausübung unter Verbot gestellt, doch solche judenfeindlichen Brauchtumsübungen waren ihnen stets willkommen. Die von Christen ersonnenen alten Horrorgeschichten wanderten – leicht redigiert – ebenfalls in den antisemitischen „Stürmer“.
Die Karwoche, in der das „Gebet für die treulosen Juden“ seinen Platz hatte, hieß früher im Bergischen einfach „Judas-Woche“. Im Mittelpunkt des verbreiteten Brauchtums stand der korporative „Judas-Jude“. In Köln präsentierten die Kinder auf einer Stange den „perfiden Verräter Judas“. Dort und auch in anderen Gegenden verbrannte man den durch eine Strohpuppe dargestellten „Judas-Juden“ auf dem Osterfeuer. Bevor sich der zuständige Bischof öffentlich dagegen aussprach, hat man diesen Brauch in Südwestfalen noch in den 1980er Jahren beobachten können.
Die „Judas-Verbrennung“ wurde vom Absingen eines mit antisemitischen Klischees durchsetzten Judasliedes begleitet, das in hochdeutscher Übersetzung so lautet:
Judas war ein schlimmer Kerl,
Er guckte mit einem Auge scheel.
Er hatte einen ganzen Sack voll Geld
Und tat damit, was ihm gefällt ...
Er hat den lieben Herrn verraten,
D’rum soll er nun im Feuer braten.
Lasst uns darum nicht geizig sein,
Dass wir nicht spüren die Höllenpein.
Dem im Christusverrat und Geldgeschäft tätigen „Judas-Juden“ droht hier die ewige Verdammnis (für sich selbst ersonnen die Christen nach dem Abschied vom kirchlichen Zinsverbot eine nur vorübergehende Fegefeuerbestrafung von „Wucherei“). Der Liedschluss, als „geistlicher Gesang“ schon im 14. Jahrhundert bezeugt, erklang, wenn die Puppe zu Asche verbrannt war: „O du armer Judas! Hättest du doch das nicht getan, dann wär’ es dir auch nicht so ergangen!“ In einer noch nicht abgeschlossenen Studie zum banalen Antisemitismus in der Mundartliteratur kann ich aufzeigen, dass man mit der „Judas-Figur“ in Wirklichkeit einen „Juden schlechthin“ meinte.
Ein KZ-Soldat erinnert sich an die Karfreitagsfürbitte
Die kirchliche Katechese war früher sehr geeignet, solche antijüdischen Exzesse der „Volksfrömmigkeit“ auch amtlich zu begünstigen. Die Erzdiözese Paderborn versorgte noch 1937 die Gläubigen mit einem Kurzkatechismus, in dem unter anderem folgende Punkte gelehrt wurden:
18. Welches ist die größte Sünde des jüdischen Volkes? Die größte Sünde des jüdischen Volkes war, daß es den Erlöser und seine Lehre verwarf. Das Christentum ist also niemals die dem jüdischen Volke eigene Religion gewesen. […] 32. Warum müssen wir unsere Familie und unser Volk besonders lieben? Wir müssen unsere Familie und unser Volk besonders lieben, weil Gott uns mit ihnen durch die Gemeinschaft des Blutes besonders eng verbunden hat.
Das katholische „Handbuch der religiösen Gegenwartsfragen“, empfohlen vom Gesamtepiskopat und herausgegeben vom Führer-Verehrer Erzbischof Gröber in Freiburg, klärte ebenfalls 1937 darüber auf, dass der russische Bolschewismus „praktisch im Dienst einer Gruppe jüdisch geleiteter Terroristen“ stehe. Über die Wirkungen kirchlicher Lehre und Praxis bezogen auf das Verhältnis zum Judentum habe ich bei meinen „Oral history“-Befragungen zur Geschichte der Juden an meinem Geburtsort 1994 folgendes zu hören bekommen:
Die Juden hatten sich doch selbst verflucht: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" [Johannesevangelium] Das war das Volk, das den Christus ermordet hat. Das wurde uns im Religionsunterricht eingetrichtert. Bei der Karfreitagsfürbitte, die die Juden betraf, wurde als Ausnahme keine Kniebeuge gemacht.
Mein Gesprächspartner, geboren 1904, wirkte hilflos bei diesen Ausführungen. Er hatte mit seiner Frau als Mieter unmittelbar neben der Wohnung der letzten Juden am Ort gewohnt. Er saß noch 1994 auf einem Kissen, das diese jüdischen Nachbarn Morgens vor ihrer Deportation eilig als „Abschiedsgeschenk“ vor die Tür gelegt hatten. Vor allem war dieser Mann nach eigenem Bekunden selbst als Soldat während des Zweiten Weltkrieges zum Dienst in einem Konzentrationslager abgeordert worden („Ich hätte es ja sonst nicht geglaubt“, ergänzte er zum Thema „Holocaust“). Aus der eigenen Verwandtschaft kannte er den Fall eines Soldaten, den man bei der Wehrmacht nach Entdeckung jüdischer Vorfahren beim Einholen des „Ariernachweises“ zum Selbstmord aufgefordert haben soll. Beigebracht hatte man eben diesem Mann schon von Kindesbeinen an, dass die Juden den Christus ermordet hätten und perfide seien.
Die sehr späte Revision nach dem Holocaust
Es dauerte lange, bis man in Rom nach der Ermordung von sechs Millionen Juden Scham angesichts der eigenen antisemitischen Traditionen empfunden hat. Ein noch unter Pius XI. entworfenes Rundschreiben zur offiziellen päpstlichen Verurteilung des Antisemitismus blieb unter dem am 2. März 1939 gewählten Nachfolgepapst Pius XII. in der Schublade liegen (vor seiner Wahl zum Papst war Pius XII. maßgeblich schon am Konkordat mit Hitlerdeutschland beteiligt gewesen).
Zu den wenigen hohen Kirchenmännern, die sich zur Zeit der Judenverfolgung im Innersten erschüttern ließen und handelten, gehörte der Bauernsohn Angelo Giuseppe Roncalli. 20.000 Juden auf dem Balkan soll er vor dem Tod bewahrt haben. Arthur Herzberg von der „Jewish Agency“ berichtet so von der Begegnung mit ihm:
Überall hörten wir das Gleiche. Jeder sagte uns: „Wir können nicht helfen!“ Mit einer Ausnahme. In Istanbul traf ich einen fetten kleinen Erzbischof namens Roncalli. Er war päpstlicher Nuntius in der Türkei. Als ich ihm erzählte, was mit den Juden geschah, stand er auf, begann zu weinen, legte seine Arme um mich und fragte: „Rabbi, was kann ich tun, um zu helfen?“
Zitiert nach der ZDF-Fernsehserie „Vatikan – Die Macht der Päpste“
Später, am 28. Oktober 1958, wurde Roncalli zum Papst gewählt und nannte sich nun Johannes XXIII. In seiner ersten päpstlichen Karfreitagsliturgie 1959 ließ er das vorgeschriebene „perfidis“ in der Fürbitte für die Juden einfach weg. Im Folgejahr war das „perfidis“ für die ganze Weltkirche verboten, die Kniebeuge beim Gebet für die Juden hingegen erlaubt.
Doch erst die 1969/70 im reformierten Messbuch von Papst Paul VI. eingeführte Neufassung hat vom Tenor der alten Karfreitagsfürbitte ganz Abstand genommen. Sie lautet im deutschen Missale:
Lasst uns beten für die Juden, zu denen Gott unser Herr zuerst gesprochen hat. Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu denen sein Ratschluss sie führen will. Beuget die Knie, erhebet Euch.
Zu diesem Zeitpunkt hatte das II. Vatikanum der katholischen Weltkirche auch theologisch das Verhältnis von Christen und Juden grundlegend neu bedacht und zwar in einer Weise, die – so betont der Bonner Liturgiewissenschaftlers Albert Gerhards – mit dem Gedanken der Judenmission aus der veralteten Karfreitagsbitte unvereinbar ist. Ein eigener Heilsweg der Juden wurde ausdrücklich anerkannt. In der Konzilserklärung „Nostra aetate“ ist außerdem von einem Band die Rede, durch welches die Kirche „mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist“. Paul VI. und der polnische Papst Johannes Paul II. pflegten nach dem Konzil dieses Band der Geschwisterlichkeit mit den Juden auf sehr persönliche Weise und aus tiefster Überzeugung. Diese Päpste liebten das Judentum. Vergleichbares ist in den Schriften und Gesten des derzeitigen Papstes bislang nicht zu finden.
Ad fontes: Rom oder Galiläa?
Im Verhältnis zu den Juden legt der Papst aus Deutschland manchmal auch wenig Sensibilität an den Tag. Bei seiner Polenreise hat er im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau am 28. Mai 2006 zwar die Unvergleichbarkeit der dort begangenen Verbrechen betont, dann jedoch „als Sohn des deutschen Volkes“ einer fragwürdigen Verführungsthese das Wort geredet und – anders als seine Vorgänger – eine kirchliche Mitschuld am Weg der Judenverfolgung gar nicht erst angesprochen.
Der Oberrabbiner von Rom, Riccardo Di Segni, blieb sehr höflich und bezeichnete die Ausführungen des Papstes als „problematisch“. In diesem Jahr hat Ratzinger den polnischen Redemptoristenpater und Medienhetzer Tadeusz Rydzyk in einer Papstaudienz empfangen. Gegen diesen Geistlichen liefen bis vor kurzem staatsanwaltliche Ermittlungen wegen „Beleidigung der jüdischen Nation“. Auch nach deren Einstellung ist der vom Papst empfangene Pater Rydzyk vom Verdacht des Antisemitismus keineswegs rein gewaschen.
Katholische und evangelische Bibelwissenschaftler haben in den letzten sechs Jahrzehnten gründlicher denn je die Absurdität eines Christentums aufgezeigt, das seinen jüdischen Ursprung vergisst und sich über das Judentum erhebt. Joseph Ratzinger aber gehört eindeutig nicht zum projudaischen Lager der christlichen Theologie, was keineswegs nur seine selbst eingestandenen Defizite im Bereich der Sozialethik belegen. Während das Judentum unter Glauben das tief verankerte Gottvertrauen – ohne Kopfdogmatik – versteht, rangiert für ihn das „Glauben“ von Sätzen und Lehrgebäuden ganz oben. Er pflegt dabei, sofern es seine eigenen Anschauungen stützt, eine selektive Kirchenvätertheologie. Die griechisch-römischen, besonders die platonisch inspirierten Ausdrucksformen des Christentums sind bei ihm häufiger Thema als die sehr einfach zu verstehende Botschaft des Juden Jesus aus Nazareth in Galiläa. Da die hellenistische, später sakral überhöhte Gestalt des Christentums für ihn die einzig annehmbare und wahre ist, versteht er sich gut mit der östlichen Orthodoxie und schlecht mit den Protestanten. Von neu bekehrten Intellektuellen, Künstlern und anderen Ästheten kommt Beifall für seine – letztlich auf dem Boden der Postmoderne entwickelten – Konstruktionen.
Eigentlich will Ratzinger Anwalt der „einfachen katholischen Gläubigen“ sein. Doch befragt man diese, so schämen sie sich häufig dafür, dass der Papst ihre evangelischen Mitchristen so beleidigt und als „Getaufte ohne Kirche“ betrachtet. In den katholischen Bistümern sind demnächst mit großem Aufwand für eine winzige traditionalistische Minderheit wieder tridentinische Hochfeierlichkeiten und entsprechende Angebote der Klerikerausbildung zu gewährleisten (die seit 1984 bestehenden Möglichkeiten zur Feier der „alten Messe“ waren dem Papst offenkundig nicht weitgehend genug). Derweil wissen die Ortsbischöfe angesichts des drastischen Priestermangels nicht einmal mehr, wie sie allen ihren Gläubigen überhaupt noch den Besuch einer Sonntagsmesse nach der „Regelform“ ermöglichen sollen.
All das kann man noch als innerkatholische Spezialitäten oder Probleme abtun. Fernab von Ideologien müssten ja auch Pastoral und Ästhetik keine Gegensätze sein. Doch sollte ausgerechnet unter einem deutschen Papst am Karfreitag in katholischen Kirchen wieder von einer Glaubensfinsternis der Juden die Rede sein? Soll nach Art evangelikaler Sekten eine Bekehrungsabsicht gegenüber den Juden erneut Eingang in das kirchliche Gebet finden? Das allerdings wäre ein Politikum sondergleichen. Ein Skandal ist es bereits, dass Joseph Ratzinger in seinem Begleitbrief zum Motu Proprio „Summorum Pontificum“ diese Möglichkeiten nicht längst ausgeschlossen hat und Rom es derzeit lediglich in Betracht zieht, auf die Karfreitagsfürbitte im vorkonziliaren Missale Romanum von 1962 zu verzichten.