Aufregung im Hühnerstall
Brodelnder Generationenkonflikt: Gesellschaftlichen Fortschritt könnten wir ohne die Frechheit und Respektlosigkeit der Jugend vergessen. Ein Kommentar
Da hat die rechte Blase mal wieder ein Aufregerthema gefunden. Dieses Jahr musste man sich nicht Weihnachtsfeiern in Kindergärten ausdenken, die angeblich nicht mehr so heißen dürften, oder Weihnachtsmärkte, die in Lichterfeste umbenannt worden seien. Man stürzte sich auf ein harmloses kleines Liedchen, das ein Kinderchor für den WDR intoniert hatte, und die Springerpresse half eifrig mit, die künstliche Aufregung des rechten Shit-Storms und seiner Bots weiter anzufachen.
Sicher, es ist ein freches Lied. Ein bisschen respektlos so wie das Original, das Kinder seit Generationen singen. Aber wo kämen wir hin, wenn Kinder nicht mehr frech wären, wenn die Jugendlichen einfach brav zu allem nicken, was die Alten so anstellen? Gesellschaftlichen Fortschritt könnten wir ohne die Frechheit und Respektlosigkeit der Jugend vergessen.
Aber diesen gesellschaftlichen Fortschritt brauchen wir heute mehr denn je, wo die ganze Welt mal wieder im Umbruch ist, wo Regierungspolitiker zu Weihnachten Völkerrecht und Menschlichkeit im Mittelmeer ersaufen lassen, wo sich die Ungleichheit in der Gesellschaft in immer neue Höhen schraubt und Armut zum Massenphänomen wird, wo Deutschlands auf Kosten anderer lebendes Exportmodell nachhaltig zu stottern beginnt und schon aus diesem Grunde, und nicht nur wegen der an die Türe klopfenden Klimakrise, die große industrielle Transformation eingefordert wird.
Verängstigte Ältere und die Springerpresse
Doch dieser Fortschritt verängstigt einen Teil der Älteren – vor allem den gut situierten Teil – so sehr, dass er wild um sich zu schlagen beginnt. Meist nur verbal, jedoch in einer derartigen Aggressivität, dass sich immer genug finden, die auf Worte mörderische Taten folgen lassen.
Diesmal hat man sich, wie gesagt, ein harmloses Lied von einer Oma herausgesucht, die gedankenlos auch noch den kleinsten Weg mit dem SUV macht. Wie üblich hat man weder den Text genau gelesen, noch bis zum Ende zugehört, denn das Liedchen endet sogar noch versöhnlich mit einer teilweisen Bekehrung der Großmutter.
Wie gewöhnlich spielt die Springerpresse und einige andere Boulevardmedien willig und nur zu gerne als gesellschaftlicher Resonanzkörper für den in den sozialen Medien offensichtlich orchestrierten Sturm mit, wofür sich die rechtsradikale Szene übrigens längst ihre Strukturen geschaffen hat. Und natürlich fand sich auch mancher CDU-Politiker, der auf Twitter und sonstwo ins von der AfD und deren Umfeld hingehaltene Horn blies.
Und sonst die Familienwerte?
Besonders zynisch wird es, wenn diejenigen Politiker, die weiter unbegleitete Kinder in den – auf Druck Berlins eingerichteten – katastrophalen Lagern auf den griechischen Inseln dahinvegetieren lassen wollen, die seit Jahren die Familienzusammenführung verhindern, den Jugendlichen vorwerfen, Familienwerte zu zerstören. (Wobei nebenbei mal eben bewusst übersehen wird, dass Fridays-for-Future mit dem WDR-Liedchen gar nichts zu tun hatte.)
Es ist ja auch alles wirklich zu einfach. Wir regen uns über ein Lied auf, damit wir nicht über die weiter steigenden Zulassungszahlen der SUV oder einen überforderten ÖPNV reden müssen. Wir regen uns über einen Tweet der Schüler auf, damit wir nicht über die Ursachen der Klimakrise, die immer neuen Rekordtemperaturen oder die gigantischen Waldbrände in Australien sprechen müssen.
Wir regen uns über ein harmloses Bildchen einer in einem überfüllten Zug sitzenden Greta Thunberg auf, um nicht über die jahrzehntelange Vernachlässigung und verfehlte Privatisierung der Bahn sprechen zu müssen, oder darüber, dass die Bahn zwar gerne grün daherredet, aber immer noch viel Kohlestrom verwendet.
Alles riecht nach Veränderung, an allen Ecken knistert sie, wohin man auch sieht, ist sie am Horizont zu sehen. Doch der verängstigte Spießer zieht es vor, seine Angst in Aggression statt in Kreativität umzusetzen und steckt ansonsten den Kopf ganz tief in den Sand. Das aber ist das beste Mittel dafür, die Veränderungen unkontrolliert und potenziell katastrophal ablaufen zu lassen – sozusagen das perfekte Rezept für einen perfekten Sturm.
Nachsatz: Zu Weihnachten jährte sich der Todestag von Rudi Dutschke zum 40. Mal. Dutschke starb an den Spätfolgen eines Attentats, das zuvor, Ende der 1960er Jahre, monatelang per Stimmungsmache von rechter Presse und Boulevard herbeigeschrieben worden war.
Für den damaligen Jugendprotest war das Attentat der Brandbeschleuniger und ein Teil der damals Jungen geht heute noch mit seinen Enkeln auf die Straße. Andere haben – inzwischen durch und durch saturiert – die eigene Jugend längst vergessen und mahnen heute die Jungen, doch lieber zur Schule zu gehen.