Die Wüste der Toten
In der Atacama-Wüste in Chile, unter den größten Teleskopen der Welt, suchen 20 Jahre nach dem Ende der Diktatur Frauen die "Reste" ihrer ermordeten Ehemänner, Söhne oder Brüder: "Nostalgía de la Luz"
Der Dokumentarfilmer Patricio Guzmán ist einer der wichtigste Chronisten der jüngeren Geschichte Chiles. Seine Trilogie "La Batalla de Chile" ("Die Schlacht um Chile", 1973), "El Caso Pinochet" ("Der Fall Pinochet",2002), "Salvador Allende" (2004) hat wichtige internationale Preise gewonnen. Sein jüngster Film "Nostalgía de la Luz" (zu deutsch "Nostalgie des Lichts", Trailer) gewann den François Chalais-Preis 2010 in Cannes. Im Dezember wurde er als bester Dokumentarfilm mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet.
In der Atacama-Wüste, unter den größten Teleskopen der Welt, suchen 20 Jahre nach dem Ende der Diktatur die Protagonistinnen Ihres Films, darunter Violeta Berrios und Victoria Saavera, die 'Reste' ihrer von der Pinochet-Diktatur ermordeten Ehemänner, Söhne oder Brüder. Wie haben Sie diese Frauen kennengelernt?
Patricio Guzmán: Durch die Presse. In den 1980ern Jahren sprach man viel über die "Frauen von Calama" (1. 570 km nördlich von Santiago, 150.000 Einwohner). Damals haben sie die Ausgrabungen angefangen, der Ort füllte sich mit Journalisten. Die Zeit verging und diese Geschichte geriet in Vergessenheit, aber die Frauen arbeiteten weiter.
Als ich nach Santiago kam, rief ich Victoria an. Sie vertritt den Verein der ehemaligen politischen Gefangenen und Ermordeten aus Calama. Ich merkte sofort, wie enorm gut, sie ihre Geschichte zu erzählen wusste. Violeta fiel mir auf durch die Klarheit ihrer Worte, ihre radikale Meinung, ihr Gesichtsausdruck, ihre Augen.
Gerade das war das Schwierigste für diesen Film: Die Personen zu finden. Hätte ich sie nicht gefunden, wäre der Film so gewesen, als ob er meine persönliche Hypothese aufzeigt hätte. Ich wollte aber mit den Menschen vor Ort verifizieren, ob das, was ich dachte, richtig war. Ich habe das Glück gehabt, dass Violeta und Victoria und alle anderen Personen, die im Film vorkommen, die Fähigkeit hatten, Parallelen zwischen ihrer Arbeit und diese verschwiegene Vergangenheit herzustellen.
In der Atacama-Wüste haben Menschenrechtsorganisationen - darunter auch diese Frauen - in den letzten 20 Jahren Massengräber mit Leichen entdeckt. Auch während der Dreharbeiten (August-Dezember 2008) haben sie eine Leiche entdeckt. In diese Massengräber hatten die Militärs die "Desaparecidos" (Verschwundenenen) geworfen. Aus Furcht, dass sie später endeckt werden, haben sie einen Teil "ausgelagert" und verbrannt.
Was produziert in der chilenischen Gesellschaft dieses kollektive Ausblenden der Verbrechen der Diktatur?
Patricio Guzmán: In Chile übernehmen die Leute generell keine Verantwortung für diesen Teil der Vergangenheit. Wenn einer danach fragt, ist die Antwort: "Ich war es nicht, ich bin nicht dabei gewesen, ich habe nichts gesehen." Es ist eine Gesellschaft, die so tut, als ob diese Vergangenheit nie existiert hätte, über sie zu sprechen ist unbequem. Weder die Presse, noch das Radio oder die großen TV-Sender berichten darüber.
Wie Lautaro Nuñez, der Archäologe im Film, sagt: "Kann es sein, dass gerade dieser Teil der Geschichte anklägerisch ist?" Haben die demokratischen Regierungen wirklich den politischen Willen gehabt, sich mit dieser Vergangenheit zu befassen?
Patricio Guzmán: In der Tat. Es gab keinen wirklichen politischen Wille in Chile. Kein Präsident der Concertación (Politische Allianz der Regierungsparteien seit den freien Wahlen von 1990 bis zur Präsidentschaftswahl von Sebastian Piñera, Anm. der Autorin). Weder Alwyn, Frei, Lagos oder Bachelet hatten ein echtes Interesse daran, die Vergangenheit zu analysieren und aufzuklären. Alle humanitären Organisationen in Chile sagen, dass man jeden Tag das Gedächtnis auf ein bestimmtes Gebiet aufarbeiten und, vor allem, in die Unterrichtsbücher einfügen muss.
Ich habe ca. 40-50 Schultexte überprüft: Der Staatsstreich und die Repression kommen sehr kurz vor; die offiziellen Texte liefern den Schülern nicht genügend Informationen. Und wenn der Lehrer einen Exkurs außerhalb des offiziellen Texts macht und die Vergangenheit erklärt, kommen am nächsten Tag die Eltern der Schüler und beschweren sich: "Der Lehrer macht Politik!" Nicht der Lehrer aber "macht Politik", sondern die Texte, indem sie Unerläßliches ausblenden.
Ich fragte auch: "Welche Texte werden in Militärakademien studiert? Hat das Parlament Einfluss auf dem Lehrstoff der jungen Offiziere?" Und man sagte mir: "Nein, der Unterricht ist komplett autonom." Dreißig Jahre lang haben die Streitkräfte sehr viel Geld aus dem Kupferabbau erhalten und doch besteht die Möglichkeit, dass diese frühere Putsch-Armee sich nicht genügend entwickelt hat. Sie hätte eine moderne, republikanische Armee werden können.
In der Tiefe dieses Komplexes zeigt sich der Wille einer politischen Koalition, das historische Gedächtnis nach ganz hinten, auf den letzten Platz, zu rücken.
Der Film hat, für einen Dokumentarfilm ungewöhnlich, Erfolg, er läuft derzeit in 14 deutschen Städten.