"Gauleiter" für Griechenland?
Die Forderung von Bundeskanzlerin Merkel, Athen die Kontrolle über die Haushaltspolitik zu entziehen, sorgt nicht nur in Griechenland für Empörung
Eigentlich hätte Kanzlerin Angela Merkel, in deutschen Leitmedian inzwischen zu Europas "Eiserner Lady" befördert, auf dem heutigen Brüsseler Gipfeltreffen einen ihrer größten außenpolitischen Erfolge in Ruhe genießen können. Die europäischen Staats- und Regierungschefs kommen in Brüssel zusammen, um unter anderem den sogenannten "Fiskalpakt" zu billigen, den Merkel beim letzten Krisengipfel im Dezember "durchboxte". Verbindliche Schuldenbremsen, die nach deutschem Vorbild in den Verfassungen der EU-Staaten laut Fiskalpakt verankert werden sollen, institutionalisieren in der gesamten Eurozone eine drakonische Spar- und Austeritätspolitik.
Diese graduelle Aufweichung des Kernbereiches staatlicher Souveränität scheint in Berlin aber weitere Begehrlichkeiten geweckt zu haben. In einen "Sicherung der Folgsamkeit" betitelten Strategiepapier, das kurz vor Gipfelbeginn in Umlauf geriet, fordert die Bundesregierung nichts weniger als die Entmündigung Athens. Die griechische Regierung solle gemäß deutscher Forderungen die Haushaltskontrolle an einem von Brüssel entsandten EU-Haushaltskommissar abgeben, der einem Statthalter gleich die Haushaltspolitik Athens bestimmen soll:
"Dieser Beauftragte hätte nach deutschem Vorschlag die Aufgabe, alle großen Ausgaben Griechenlands zu überwachen. Er hätte auch die Macht, finanzielle Entscheidungen des Landes per Veto zu revidieren, wenn diese Entscheidungen nicht den Zielen der Geldgeber Griechenlands entsprechen. Der gesamte griechische Haushalt soll auf die Zurückzahlung der Schulden ausgerichtet werden. Erst wenn diese gewährleistet ist, soll Griechenland seine staatlichen Ausgaben planen."
Durch den Vorrang der Rückzahlung der Schulden soll Griechenland ein letzes Druckmittel bei den Verhandlungen mit seinen Gläubigern aus der Finanzbranche genommen werden; nämlich die Drohung mit einem unkontrollierten Bankrott, der enorme Schockwellen durch die Finanzmärkte jagen würde. Deutschland wolle hierdurch "einen Bankrott Griechenlands de facto ausschließen", hieß es in der österreichischen Die Presse. Athen soll somit gemäß deutscher Vorstellungen entmündigt und zum ewigen Schuldendienst verurteilt werden. Derzeit befinden sich die Verhandlungen zwischen Finanzbranche und Athen über Art und Umfang des "Schuldenschnitts" in der Endphase.
Auslöser dieses neusten Vorstoßes aus Berlin waren neue Schätzungen, denen zufolge der Finanzbedarf Athens in den kommenden Jahren um weitere 15 Milliarden Euro ansteigen dürfte. Diese jüngsten Finanzierungslöcher lösten in der deutschen Koalition wie Öffentlichkeit die altbekannten Reflexe aus: "Für Reformstillstand gibt es kein Geld", polterte etwa CSU-Chef Seehofer. Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach erklärte rundweg, gegen neue Hilfsmaßnahmen zu stimmen: "Den Griechen fehlt nicht der politische Wille, sondern die ökonomische Kraft, um wieder auf die Beine zu kommen." Generell wird in der deutsche Öffentlichkeit immer noch der Eindruck erweckt, es sei der "Reformunwille der Griechen", der zu dieser dramatischen Wirtschaftslage in Griechenland geführt habe.
Sparkurs mit desaströsen Folgen
Tatsächlich ist es aber der maßgeblich von Berlin durchgesetzte Spardruck, der Athen immer weiter in den Abgrund treibt. Die verhängnisvolle ökonomische Abwärtsspirale, die Athen aufgrund exzessiver Sparmaßnahmen in den Staatsbankrott treibt, ist seit langem bekannt und durch die dramatische Entwicklung in Hellas hinreichend empirisch belegt – und dennoch hält Berlin die Augen vor diesen unbequemen Zusammenhängen krampfhaft verschlossen: Die von Berlin und Brüssel oktroyierten drastischen Sparpakete ließen die staatliche und private Nachfrage in Griechenland rasant einbrechen, was eine verhängnisvolle, sich selbst verstärkende Abwärtsspirale auslöste, bei der die einbrechende Konjunktur die Staatseinnahmen schrumpfen, und das rasch anschwellende Arbeitslosenheer die Staatsausgaben anschwellen ließ. Das Ergebnis ist wohlbekannt. Vor Beginn der Sparprogramme bewegte sich die griechische Staatsverschuldung 2009 bei rund 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, derzeit ist sie auf rund 163 Prozent des BIP angestiegen und soll dank des Schuldenschnitts auf rund 120 Prozent des BIP bis 2020 absinken. Damit würde somit der Schuldenberg in Griechenland auf ein Niveau absinken, das Athen vor Beginn der "Sparmaßnahmen" aufwies.
Die desaströsen sozialen Folgen dieses Spurkurses – an dem Berlin trotz offensichtlichen Scheiterns blind und krampfhaft festhält - schilderte jüngst die Presse:
"Auf Druck der internationalen Geldgeber sollen 150.000 Staatsbedienstete – fast jeder fünfte – in den nächsten drei Jahren gehen. Der Mindestlohn soll abgeschafft werden. Das 13. und 14. Monatsgehalt im privaten Sektor sollen gestrichen, Zusatzrenten und die Ausgaben im Sozialbereich gekürzt werden. … Knapp 19 Prozent der Griechen sind arbeitslos, allein in Athen gibt es 20.000 Obdachlose, 250.000 Menschen füttert die Kirche durch. Das Abwürgen der Wirtschaft im Namen der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit könnte zu einer gewaltigen sozialen Reaktion führen, sagt der griechische konservative Europaabgeordnete Theodoros Skylakakis."
Die griechische "Expertenregierung" setzte mehrmals die immer drastischeren Sparmaßnahmen um, die entgegen der landläufigen Propaganda hierzulande kolumne-thomas-fricke-merkel-stalkt-europa-ins-desaster/60136900.html: sehr konsequent und "erfolgreich" waren. Zwischen 2009 und 2011 wurde das strukturelle Staatsdefizit in Athen um unglaubliche 11,4 Prozent des BIP abgesenkt, während es in Spanien nur rund 6,2 Prozent und in Irland nur vier Prozent waren. Zum Vergleich: in den vier Jahren nach Implementierung der "Agenda 2010" sank das strukturelle Haushaltsdefizit in Deutschland um gerade mal 2,6 Prozent. Griechenland hat sein strukturelles Staatsdefizit somit in drei Jahren mehr als vier Mal so stark verringert als Deutschland in vier Jahren während der hierzulande durchgeführten Sozialdemontage und Prekarisierung des Arbeitslebens.
Dementsprechend bitter fallen die Reaktionen in Athen auf die deutschen Begehrlichkeiten aus: In den Medien wird von einem deutschen "Gauleiter" gesprochen, den Merkel nach Griechenland entsenden wolle. In der Zeitung "To Vima" hieß es: Deutschland fordere die "bedingungslose Kapitulation der griechischen Finanzen". Die griechische Regierung erklärte unverzüglich: "Es ist ausgeschlossen, dass wir das akzeptieren. Diese Kompetenzen fallen unter nationale Souveränität."
Bündnis gegen Deutschland
Tatsächlich scheint die Bundesregierung mit diesem jüngsten Vorstoß den Bogen überspannt zu haben. In Deutschland wagte es immerhin der Linke-Chef Klaus Ernst, die Bundesregierung an die historischen Parallelen zu erinnern, die bei solch ungehemmten Dominanzstreben Berlins sich einstellen: "In Griechenland erinnern sich die Menschen bei solchen Vorschlägen, gerade wenn sie aus Deutschland kommen, ganz automatisch an den dunkelsten Teil ihrer Geschichte." Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann warnte, man solle "niemanden in der Politik beleidigen", während Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn zu größerer Vorsicht mahnte: "Ich denke dass das größte Land in der Europäischen Union, Deutschland, etwas vorsichtiger sein sollte." Einwände erhoben auch deutsche Abgeordnete im EU-Parlament .
Volle Breitseiten gegen die Dominanz Berlins in Europa feuern inzwischen britische Leitmeiden wie die Times ab, die in einem - vom französisch-europäischen Portal //www.presseurop.eu/de/content/article/1452081-deutschland-raus-aus-dem-euro in nahezu alle EU-Sprachen übersetzten - Leitartikel den deutschen Sparwahn für die Eskalation der Krise verantwortlich macht und europäisches Bündnis gegen Berlin fordert:
"Das Grundproblem liegt nicht in der Effizienz der deutschen Wirtschaft, obwohl diese schon auch zum Auseinanderklaffen der wirtschaftlichen Schicksale beigetragen hat, sondern vielmehr im Verhalten der deutschen Politiker und Zentralbanker. Nicht nur legt die deutsche Regierung konsequent Veto gegen die einzigen Strategien ein, die der Eurokrise hätten Herr werden können – kollektive europäische Garantien für nationale Staatsanleihen und ausgedehntes Eingreifen der Europäischen Zentralbank. Nein, zu allem Übel ist Deutschland auch verantwortlich für fast alle irrigen Strategien, die die Eurozone bisher eingesetzt hat, angefangen bei den verrückten Zinssatzerhöhungen durch die EZB im vergangenen Jahr bis zu den exzessiven Forderungen nach Sparmaßnahmen und den Bankverlusten, die nun Griechenland mit einem chaotischen Zahlungsausfall bedrohen. … Frankreich, Italien, Spanien und ihre Partner in der Eurozone haben die Mittel, den Euro zu retten, und könnten dabei Deutschlands wirtschaftlicher Vorherrschaft entkommen. Die einzige Frage ist, ob sie genug Selbstvertrauen und Wirtschaftsverständnis haben, um sich gegen Deutschland zu vereinen."
Berlins Politelite, die Deutschland bereits als neue Hegemonialmacht in einem Europa sieht, in dem überall "Deutsch gesprochen" werde, könnte sich bald isoliert finden:
"Mario Monti, der von Deutschland ernannte italienische Ministerpräsident, nahm kein Blatt vor den Mund und warnte vor einer "kräftigen Rückwirkung" für Deutschland, falls es sich weiterhin Maßnahmen entgegenstellt, die den finanziellen Druck auf andere Euro-Mitglieder erleichtern könnten, wie etwa die Ausgabe gemeinsam abgesicherter Anleihen."