Generation Webcam

Ohne Video kommt man heute nicht mehr durch den Tag. Man zoomt, vimeot und Tinder face-to-faced oder ist draußen

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Ende der 90er des vergangenen Jahrhunderts machte sich eine dynamische Marketingangestellte in einem Start-up selbständig, das für die aufkommende Video-Telefonie Vorsorge traf. Sie erzählte mächtig stolz, dass man nämlich gemessen hatte, wie lange es dauerte, bis ein Mann oder eine Frau durchschnittlich ein Video-Telefonat annahm. Bei Männern, so meinte sie, würde das im Schnitt drei Klingeleinheiten dauern. Bei Frauen bis zu zehn.

Man möge mich jetzt nicht sexistisch nennen, es sind ja ihre Worte, aber sie war der Ansicht, dass Frauen sich hier erst einmal die Haare richten und sich schminken würden. Respekt, wenn das eine Frau in den 90ern des vergangenen Jahrhunders binnen sieben Klingelzeichen hinbekam, aber darum ging es der Marketingangestellten nicht. Ihr Start-up kümmerte sich um einen Filter für Videotelefonate, das das Bild der Teilnehmer verschönern sollte. Es ging sang- und klanglos unter.

Zum einen, weil die Zeit für Videocalls noch nicht gekommen war, zum anderen, weil eine Menge Menschen dann immer noch einfach die Kamera ausließen, und weil es inzwischen solche Tools wie Snapcam gibt, das die Arbeit übernimmt.

Und da gibt es inzwischen eine Menge zu tun, denn wir steuern als Generation Webcam auf eine komplette Durchdringung unseres Alltags durch Teams, Zoom, Webex, Skype und anderen Plattformen zu. Wir sind always on geworden, ohne das noch als Medienübertragung zu erleben. Der Bildschirm ist der neue Meetingraum geworden.

Deshalb ist es auch kein Wunder, wenn weitere Videos wichtig werden. Tinder hat jetzt auch mit Face-to-Face einen vielleicht nicht besonders kreativen Namen dafür gefunden. Wie soll das Ding auch sonst heißen: eye-to-boops wäre vielleicht ehrlicher, aber unangemessen. Man ist aber stolz bei Tinder, dass man das ganze Gedöns von "lass uns mal einen Spaziergang machen" oder "hey, wir gehen einfach mal einen trinken" auf ein "kannst Du mich sehen?" reduziert hat.

Und wem das noch zu live ist, der kann mit Vimeo Record zeitversetzte Videopräsentationen aufnehmen, die man dem Chef immer mal schicken kann, falls man gerade zu seinem phänomenalen Wochenmeeting verhindert ist. Vermutlich lassen sich beide Services als "Record Face-to-Face" irgendwann ineinander schmelzen, sodass man mit einem zehn Jahre alten Video in den Tinde- Chat einsteigen kann – schließlich machen das manche ja auch mit ihren Profilbildern. Oder man bandelt mit dem CEO* via Tinder an, um ihr/ihm dann die Marketingpräsentation aufs Auge zu drücken.

Erst wenn der letzte Videostream mit allen anderen verbunden sein wird, werdet ihr sehen, dass man nicht mehr ungesehen bleiben kann. Hugh. Generation Webcam hat gesprochen.