Hilferuf aus Cizre
Türkei verwehrt Zugang zu Schwerverletzten in einem Keller der südanatolischen Stadt mit kurdischer Mehrheit
In der kurdischen Stadt Cizre, auf türkischem Staatsgebiet an der Grenze zu Syrien gelegen, herrscht Ausnahmezustand. Ganze Stadtteile liegen in Trümmern und ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Immer wieder kündigte die türkische AKP-Regierung die erfolgreiche "Säuberung" der Stadt an. Die Bilder einer Stadt, die in Teilen mittlerweile Städten wie Kobanê ähnelt, prägen sich ein. Jedoch sind es die aktuellen Ereignisse, wie das Schicksal der bis zu dreißig in einem Keller in Cizre eingeschlossenen Personen, welche die Dimension des Krieges deutlich machen.
Seit dem 23. Januar befinden sich dreißig, zum Teil schwer verwundete und verstorbene, Personen eingeschlossen in einem Keller. Sie werden nicht medizinisch versorgt und seit vier Tagen ist der Kontakt zu ihnen abgerissen. Nach Informationen der sozialdemokratischen Zeitung Cumhuriyet sind von den 30 Eingeschlossenen mittlerweile sieben gestorben, 15 seien verletzt und neun weitere würden im Sterben liegen.
Der türkische Premierminister behauptet demgegenüber: "Höchstwahrscheinlich gibt es dort gar keine Verletzten."
Interessant ist die Begründung Davutoglus für seine Behauptung: Es sei ja keiner aus dem Haus herausgekommen. Eine merkwürdige These, da die Verletzten immer wieder betonen, nicht selbstständig herauskommen zu können, da sie eben verletzt seien. Schon am 29. Januar veröffentlichte die Zeitung Cumhuriyet ein Telefongespräch mit den Eingeschlossenen. Dort war die Rede von sechs Toten und fünf Personen in kritischem Zustand, unter ihnen ein 14-15-jähriger Junge.
Die obige Erklärung Davutoglus deckt sich unfreiwillig mit einem Bericht des ehemaligen Bürgermeisters von Diyarbakir und Abgeordneten der HDP, Osman Baydemir, des HDP-Fraktionscovorsitzenden Idris Baluken und der Abgeordneten Meral Danis Bestas, in dem sie genau diese Situation beschreiben, warum die Verletzten nicht heraus können:
"Während wir auf die Erlaubnis [des Krisenstabs, die Verletzten abzuholen] warteten, waren wir im permanenten Telefonkontakt mit den Verwundeten im Keller. Nachdem eine halbe Stunde vergangen war und wir immer noch keine Erlaubnis erhalten hatten, hörten wir Schüsse und Explosionen aus dem Keller über die Telefonverbindung. Wir hörten die Verwundeten schreien: 'Auf uns wird geschossen und Bomben wurden hereingeworfen. Sie werden uns umbringen. Helft uns. Was sagen sie?' Wir konnten eine Tonaufzeichnung von diesen Momenten anfertigen. …Nach dem ersten Angriff konnten wir nur noch zweimal in Zeitabständen mit den Verwundeten Telefonkontakt aufnehmen. In diesen Gesprächen erklärten die Verwundeten, sie wären unter Geröll gefangen und könnten kaum atmen oder sich bewegen, geschweige denn das Haus aus eigener Kraft verlassen. Sie teilten uns auch mit, dass gerade einer von ihnen verstorben sei."
Das Video an dessen Ende man Schreie und Schüsse hört, wurde von Cumhuriyet veröffentlicht.
Ein Grund, warum immer wieder der Zugang für Ambulanzen verweigert wird, ist die Sicherheitslage. Allerdings berichten die Eingeschlossenen:
“Vor dem Haus stehen Panzer. Auf der anderen Seite ebenfalls. Wir hören ihre Geräusche. Der Staat ist selbst hier, wenn er seine eigenen Krankenwagen nicht hierher bringen kann, was bleibt uns dazu sagen.“
Auch die HDP Delegation bestätigt dies und berichtet, dass die Behörden nicht in der Lage zu sein scheinen, "die Sicherheitskräfte dazu veranlassen zu können, das Feuer in der Umgebung einzustellen“. Eine Delegation von Müttern der Eingeschlossenen konnte sich dem Haus bis in den Vorhof nähern und bestätigt Berichte, dass das Haus durch Artilleriebeschuss zum Teil eingestürzt sei und dass die Verletzten ohne Hilfe von außen das Haus nicht verlassen könnten. Die Frauen erklärten ebenfalls:
"Das Haus ist von Panzern umstellt, wir riefen damit unsere Kinder uns hören, aber kein Geräusch drang heraus."
Die Zivilverteidigungseinheiten der YPS, die ein Vordringen der türkischen Polizei und Armee in bestimmte Stadtteile verhindern, erklärten, dass sie in der Gegend keine Einheiten hätten. Gleichwohl wirft die türkische Regierung nach Medienberichten "PKK-Kämpfern" vor, auf Einsatzkräfte zu feuern.
Die Situation der Ewingeschlossenen wird durch die fehlende Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln verschärft. Der HDP-Abgeordnete Sariyildiz schildert die Situation so:
"Seit Tagen erhalten wir keine Nachricht von den Verwundeten. Es gibt dort sieben Leichen. Manche sind vor zwölf Tagen gestorben. Stellen Sie sich das vor, während die Verletzten an Schmerzen, Hunger und Durst leiden, liegen neben ihnen die Leichen, diese Leichen haben begonnen zu riechen. Sie lassen die Menschen das schlimmste Leid durchleben...“
Am 03.02. veröffentlichten nach Angaben der Nachrichtenagentur Firat, der AKP nahestehende Socialmedia Konten und Bilder von 8 verstümmelten Leichnamen, die Hinweise auf eine Hinrichtung aufwiesen. Allerdings waren die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.
Mittlerweile gibt es mehrere Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vor dem Verfassungsgerichthof der Türkei. Der EUMGH wies die Klage ab, mit der Begründung, der Verfassungsgerichtshof der Türkei sei zuständig.
Das Abschieben von Zuständigkeit und das generelle Schweigen der europäischen Regierungen bestärkt den Kriegskurs der türkischen Regierung. Sie scheint vor Einbruch des Frühlings Exempel statuieren zu wollen, um eine Ausweitung des Aufstands im Frühling zu verhindern, eine Offensive der kurdischen Guerilla soll bevorstehen.