Macht uns das Netz unkonzentrierter, zerstreuter und dümmer?
Weltweites Lesenverlernen oder die "größte Expansion von Möglichkeiten des Ausdrucks, die die Welt je gesehen hat"?
Haben wir uns schon in eine erbärmliche Geistesverfassung hinein zerstreut? Die Klage über den Verfall der Kultur ist alt, und vielleicht ebenso betulich wie die Frage danach, wann wir zuletzt ein Buch zuende gelesen haben. Aber die Frage trifft auf ein paar akute, schmerzhafte Stellen: Wie ist es um unsere Konzentrationsfähigkeit bestellt, um die geistige Spannkraft und das Durchhaltevermögen, die man braucht, um nicht nur ein paar Häppchen Text, sondern ein ganzes Buch, das ein paar Ansprüche stellt, durchzulesen? Wann haben wir es zuletzt geschafft, ein solches Buch zuende zu lesen? Und wie wichtig ist das?
"Mein Denken hat sich verändert, es funktioniert anders als früher", klagt der amerikanische Autor Nicholas Carr in einem viel beachteten und viel diskutierten Artikel, der im amerikanischen Magazin "The Atlantik" erschienen ist:
"Ich merke das am stärksten, wenn ich lese. Völlig in ein Buch oder einen längeren Artikel einzutauchen, war immer einfach. Mein Verstand wurde vom Erzählfluss oder der Art der Argumentation in Bann gezogen und ich verbrachte Stunden, um durch längere Prosa-Passagen zu streifen. Das ist nicht mehr so. Jetzt fange ich nach zwei, drei Seiten an abzuschweifen. Meine Konzentration driftet ab. Ich werde zappelig, unruhig, verliere den Gedankengang, suche nach etwas anderem, das ich lieber tun möchte. Mir geht es so, als ob ich meinen Geist mit Gewalt zum Buch zurück ziehen muss. Vertieftes Lesen wird zu einem Kampf."
Carr bringt seine Klage mit den Lese- und Informationsgewohnheiten in Zusammenhang, die er sich im Umgang mit dem Netz zugelegt hat - eine Erfahrung, die Carrs Freunde, als meist literarisch interessierte Personen charakterisiert, teilen:
"The more they use the Web, the more they have to fight to stay focused on long pieces of writing."
"Macht uns Google dumm?" heißt die Frage, die Carr schon im Titel seines Artikel aufwirft; die Symptome, die er für seine Geistesveränderung beschreibt, mögen manchem bekannt vorkommen:
"And what the Net seems to be doing is chipping away my capacity for concentration and contemplation. My mind now expects to take in information the way the Net distributes it: in a swiftly moving stream of particles. Once I was a scuba diver in the sea of words. Now I zip along the surface like a guy on a Jet Ski."
Studien, die der Artikel erwähnt, zeigen, dass Online-Leser mehr springen als andere, dass sie einen Text früher und häufiger verlassen. Das Web hat eine neue Art der Lesefertigkeit geschaffen, die Frage ist, schafft es damit auch automatisch die alte Lesefähigkeit ab? Wie schlimm ist der Wandel, den Carr beschreibt?
Der Verlust des "Deep Reading" sei kein Paradigma, das für alles gilt und alles erklären kann, so Clay Shirky in einer lesenswerten Antwort auf Carrs Kulturkritik. Kultur erschöpft sich nicht in einer Lesefertigkeit. Ob wir denn die letzten zehn Jahre ein Nachlassen in Musik, Wisssenschaft und Technik erlebt hätten?, fragt Shirky rethorisch.
Nach Shirkys Auffassung steckt hinter Carrs Unbehagen an der Kultur vor allem das Unbehagen darüber, dass sich ein wesentliches Paradigma unwiderruflich verändert habe: die Zeiten der normativen Hoheit und der Dominanz der literarischen Kultur über die alle anderen Disziplinen, Fächer und Ressorts ist vorbei. Die Bedrohung, die Carr spüre, bestehe nicht darin, dass keiner mehr "Krieg und Frieden" lese, sondern darin, dass keiner mehr "niederkniet" vor der Idee, "Krieg und Frieden" zu lesen. Der Basar, sprich das wuselige Netz, funktioniere an vielen Stellen, vom Individuum bis zur Kultur, besser als die alten Kathedralen.
Die Erfindung des Buchdrucks habe zur Folge gehabt, dass es mehr Bücher gab, als sie eine Person in einem Leben lesen könnte, weswegen Lehrer die Disziplin ihrer Schüler schärfen mussten und Buchdrucker Genres erfinden, um gegen den Information-Overload des 16.Jahrhunderts anzugehen. Und die Gesellschaft sei nach den beiden folgenden Jahrhunderten der Veränderung besser gewesen als zuvor, auch wenn es zwei Jahrhunderte gedauert habe.
Jetzt müsse man sich einer ähnlichen Herausforderung stellen, wieder gehe es um Überfluss, so Shirky. Nostalgie sei hier keine Hilfe und nur eine Nebenschauplatz, auf der Hauptbühne gehe es darum, die "größte Expansion von Möglichkeiten des Ausdrucks, die die Welt je gesehen hat", zu formen.