Österreich: Verfassungsgerichtshof hebt Vorratsdatenspeicherung auf

Anlassloses, flächendeckendes Datensammeln wird mit sofortiger Wirkung untersagt

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In einer Pressekonferenz haben die österreichischen Verfassungsrichter heute die Vorratsdatenspeicherung im Telekommunikationsbereich für verfassungswidrig erklärt. Die Bestimmungen stünden im Widerspruch zum "Recht auf Privatsphäre" und dem "Datenschutz".

Durch die Vorratsdatenspeicherung würde der Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ("Recht auf Privat- und Familienleben") verletzt. Zudem heble die Richtlinie grundlegende Datenschutzbestimmungen aus, befanden dir obersten Verfassungsrichter. Ihre Entscheidung entspricht auch dem im April dieses Jahres vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gefällten Urteil, wonach die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärt wurde.

Für wie gravierend die österreichischen Verfassungsrichter die Eingriffe in Grundrechte halten, mag sich auch daran zeigen, dass sie keinen Aufschub für eine Reparatur des Gesetzes durch das österreichische Parlament einräumten. In einer Presseaussendung heißt es wörtlich:

Eine Frist zur Reparatur wird nicht gewährt. Die Aufhebung tritt mit Kundmachung der Aufhebung, die unverzüglich durch den Bundeskanzler zu erfolgen hat, in Kraft.

Damit erteilten sie den Vertretern der Regierung eine Abfuhr, die in einer öffentlichen Anhörung vor einigen Wochen die Datenspeicherung noch verteidigt hatten. Damals hatte sich herausgestellt, dass in der Praxis die Daten nichts zur Terrorbekämpfung (sic! - die Begründung für die EU-Vorratsdatenspeicherungrichtlinie) beigetragen hätten.

Meist wurde von den Behörden auf die Daten zurückgegriffen, wenn es um Diebstahl, Sucht- und Betrugsdelikte ging. Den Beitrag, den die Daten letztlich zur Aufklärung von Verbrechen leisteten, war zudem mager, wie aus der Anhörung (Live-Ticker auf www.netzpolitik.org) hervorging.

Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung gefährdet

Den österreichischen Verfassungsrichtern waren die dargelegten "Sicherheitsvorkehrungen" insgesamt nicht ausreichend. Dass man quasi die gesamte Bevölkerung flächendeckend im Kommunikationsverhalten erfasst, wäre unverhältnismäßig. Unter anderem würde das Recht des Individuums auf "freie Persönlichkeitsentfaltung" untergraben.

In einer Zusammenfassung der ausschlaggebenden Gründe für das Urteil des VfGH heißt es wörtlich:

Die "Streubreite" der Vorratsdatenspeicherung übertrifft die bisher in der Rechtsprechung des
Verfassungsgerichtshofes zu beurteilenden Eingriffe in das Grundrecht auf Datenschutz, und zwar sowohl hinsichtlich des betroffenen Personenkreises – nahezu die gesamte Bevölkerung ist davon betroffen – als auch der Art der betroffenen Daten, sowie der Modalität der
Datenverwendung.

und:

Das Grundrecht auf Datenschutz, so der Verfassungsgerichtshof, ist in einer demokratischen Gesellschaft auf die Ermöglichung und Sicherung vertraulicher Kommunikation zwischen den Menschen gerichtet. Der Einzelne und seine freie Persönlichkeitsentfaltung sind nicht nur auf die öffentliche Kommunikation in der Gemeinschaft angewiesen; die Freiheit als Anspruch des Individuums und als Zustand einer Gesellschaft wird bestimmt von derQualität der Informationsbeziehungen.

Der VfGH hat somit den Beschwerdeführern - AK-Vorrat, einem Angestellten eines Telekommunikationsunternehmens und dem Antrag der Kärtner Landesregierung - im wesentlichen Recht gegeben. Insgesamt waren 11.139 Anträge gegen die Vorratsdatenspeicherung eingegangen, berichtet die AK-Vorrat.

In Österreich war die umstrittene EU-Regelung zur Vorratsdatenspeicherung 2012 in Kraft getreten. Insbesondere der Arbeitskreis Vorrat als Bürgerinitiative hatte gegen die Vorratsdatenspeicherung öffentlichkeitswirksam mobilisiert und immer wieder auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verwiesen.

Unterstützt wurde die AK-Vorrat nach eigenen Angaben unter anderem vom Verein Quintessenz, der jedes Jahr auch die Big Brother-Awards in Österreich vergibt.