Portugiesen platzt der Kragen
Nachdem Sparmaßnahmen von der Bevölkerung lange mitgetragen wurden, ist für viele nun jede Grenze überschritten
Nach einem Regierungsjahr der liberal-konservative Koalition ist vielen in Portugal nun der Kragen geplatzt. Nach den riesigen Demonstrationen am Samstag machen auch Streiks die explosive Stimmung gegen die gespaltene Regierung deutlich. Immer weniger Menschen glauben den Beschwörungen von Ministerpräsident Pedro Passos Coelho, dass eine Erholung in Sicht sei.
Bestreikt werden seit Montag der Öl‑ und Gaskonzern Galp und die Häfen des Landes, womit zwei sensible Bereiche der Wirtschaft betroffen sind. Galp wird bis Mittwoch bestreikt. Versorgungsengpässe werden nicht erwartet. Das sei nicht das Ziel, sagte Armando Farias von der Gewerkschaft Fiequimetal. Der Gewerkschaftssprecher hebt hervor, dass sich 90% der Beschäftigten der Belegschaft beteiligten. Galp dementiert diese Zahl. Eines der 600 weltgrößten Unternehmen räumt aber ein, dass sie deutlich höher ist als früher.
Der Ausstand in den Häfen zeitigt schon Auswirkungen. Sie werden sich noch verstärken, obwohl die Lotsen die Arbeit am Mittwoch wieder aufnehmen. Sie werden nämlich von den Hafenarbeitern abgelöst. Am kommenden Montag übernehmen die Beschäftigten der Hafenverwaltungen. Im Containerhafen der Hauptstadt Lissabon stauen sich schon jetzt die Lastwagen. Über die Häfen kommen nicht nur wichtige Ressourcen wie Öl ins Land, sondern auch die Automobilindustrie und andere Sektoren werden über sie beliefert. Auch die Exporte werden vor allem über die Häfen des Landes abgewickelt, die bisher dafür gesorgt haben, dass das Land nicht noch tiefer abgestürzt ist, allerdings immer deutlicher schwächelt. Dass die Produktion von Kraftfahrzeugen im August gegenüber dem ohnehin schwachen Vorjahresmonat aber sogar um 56,2% eingebrochen ist, zeigt an, wie sich die Rezession verschärft.
Der Streik in den Häfen setzt aber auch zusätzlich der Tourismusindustrie weiter zu, die ohnehin unter dem massiven Anstieg der Mehrwertsteuer zu leiden hat. So können etliche Kreuzfahrtschiffe in diesen Tagen nicht anlegen. Der Portugiesische Reisebüroverband (APAVT) spricht von "Unverantwortlichkeit". Der APAVT-Sprecher João Welsh sagte, man verschärfe die Krise im Land. Der Streik "untergräbt mittel- und langfristig die gesamte Arbeit der letzten Jahrzehnte". Es habe lange gedauert, um die Schiffe anzulocken. Doch die Lotsen geben zurück, dass Entlassungen die Sicherheit untergraben. Man wendet sich auch gegen Lohnkürzungen und gegen die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen. Letztlich richten sich die Streiks gegen die Regierung. Die hat mit der Ankündigung, die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung von 10 auf 18% anzuheben und die Beiträge für Unternehmer dafür zu senken, das Fass zum Überlaufen gebracht.
Hatten die oppositionellen Sozialisten Coelhos Kurs lange mitgetragen, lehnen sie diese Maßnahme ab, mit der die Regierung das Haushaltdefizit senken will. Das gilt auch für die kleinere Gewerkschaft UGT, welche die Arbeitsmarktreform mitgetragen hat und sich am letzten Generalstreik dagegen im März nicht beteiligt hatte. Wie beim spanischen Nachbarn rückt der nächste Generalstreik auf die Tagesordnung, eventuell einigen sich die Gewerkschaften beider Länder auf einen gemeinsamen Streiktag.
Widersprüche in der Regierung, weitere Proteste geplant
Dass Portugal seine Sparziele trotz der konservativen Tricksereien einhalten kann, wird aber immer unwahrscheinlicher. Dabei hat das Land nach Spanien nun ebenfalls bis 2014 ein Jahr mehr Zeit dafür erhalten, wieder unter die Stabilitätsmarke von 3% zu kommen. Die starke Rezession macht das praktisch unmöglich. Sie lässt trotz deutlich gestiegener Steuersätze die Staatseinnahmen einbrechen, während die Sozialausgaben steigen. Zudem kommen auch geplante Privatisierungen nicht voran, die Geld in die Staatskasse spülen sollten. Die Lufthansa und der britisch-spanische Luftfahrtkonzern International Consolidated Airlines Group (IAG) wollten eigentlich ein Angebot für die Fluglinie TAP abgeben. Die Frist verstrich nun aber ungenutzt.
Die Widersprüche in der Regierung spitzen sich derweil zu. So hat sich für die rechtskonservative Volkspartei (CDS‑PP) Außenminister Paulo Portas von der Sozialversicherungsreform distanziert. In Coelhos Sozialdemokratischer Partei (PSD) stellen sich drei Minister dagegen, hat die Zeitung Publico am Dienstag berichtet. Justizministerin Paula Teixeira da Cruz, Gesundheitsminister Paulo Macedo und Innenminister Miguel Macedo zweifeln, ob die Maßnahme von der Verfassung gedeckt wird.
Das gilt auch für die Streichung des 14. Monatsgehalts im öffentlichen Dienst. Obwohl das Verfassungsgericht sie kürzlich als verfassungswidrig verurteilte, hält Coelho für 2013 weiter daran fest. Er hofft, dass die höchsten Richter ihm das erneut durchgehen lassen und die Regierung aus "höherem Interesse" nicht zur Nachzahlung verdonnern. Das alles sind Gründe, warum den Portugiesen der Kragen platzt. Solch riesige Demonstrationen wie am Wochenende in vielen Städten hat das Land seit der Nelkenrevolution nicht mehr gesehen, als 1974 linke Militärs friedlich die Diktatur stürzten. Längst schließen die Protagonisten von einst eine Wiederholung des Militärputschs zum Schutz von demokratischen und sozialen Rechten nicht mehr aus.
Am Montag wurde auch ein Bürgerbegehren eingebracht, um Neuwahlen zu erzwingen. Gefordert wird der sofortige Rücktritt des Ministers für Parlamentarische Angelegenheiten. Miguel Relvas wurde in Rekordzeit an einer Privatuniversität zum Politologen gekürt. Er absolvierte von 36 Prüfungen nur vier. Ihm wurde aber sein reicher Erfahrungsschatz angerechnet, darunter eine ehrenamtliche Tätigkeit als Vorsitzender eines Folklore-Tanzvereins. Zudem soll er in einen Geheimdienstskandal verwickelt sein. Die Juristin Sonia Sousa Pereira, die die Initiative vorantreibt, fordert "mehr Würde" von der Regierung gegenüber einem Volk, dass sich in der Krise "vorbildlich" verhalte. Zwar wird nicht direkt der Rücktritt der Regierung gefordert, doch das sei die logische Folge, da sich Coelho hinter seinen Skandal-Minister gestellt habe.
Für Freitag wird zu einer "Mahnwache gegen die Austeritätspolitik" am Regierungssitz in der Hauptstadt von denen mobilisiert, die auch zu den Demonstrationen am Samstag aufgerufen haben. Beobachter erwarten, dass es zu einem dauerhaften "Occupy-Camp" im Rahmen der Occupy-Bewegung kommen wird. Die Regierung soll dauerhaft mit den Forderungen konfrontiert werden. Der Troika aus Europäischer Zentralbank (EZB), EU‑Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF), die Portugal den Sparkurs aufzwingt, soll klargemacht werden, dass sie sich "zum Teufel" scheren soll.