"Viele Mädchen und Jungen hierzulande fühlen sich nicht wertgeschätzt und akzeptiert"
UNICEF zur Lage der Kinder in Deutschland: "Leistungsstark, aber unglücklich?"
Wird nach ihrer eigenen Einschätzung der Zufriedenheit gefragt, so geht es Kindern und Jugendlichen im Alter von 11 bis 15 Jahren in Deutschland auffallend schlechter, als es eine objektivere Sicht erwarten lässt. Dieser interessante Unterschied tut sich im aktuellen UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Industrieländer auf.
In der für solche Berichte gerne herangezogenen Tabellenform sieht die Lage im Vergleich so aus: Bei der Rangliste für "kindliches Wohlbefinden" - das aus fünf Kriterien, Dimensionen genannt, ermittelt wird -, belegt Deutschland Platz sechs. Hinter den Niederlanden, Norwegen, Island, Finnland und Schweden. Anders bei der Rangliste "Lebenszufriedenheit" - die auf Angaben der Kinder beruht. Dort belegt Deutschland Platz 22 von 29. Schlusslicht ist Rumänien, Erster ist auch hier die Niederlande, gefolgt von Island, Spanien und Finnland.
Als Kriterien für das kindliche Wohlbefinden gelten der UNICEF fünf Dimensionen: materielles Wohlbefinden, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Verhalten und Risiken sowie Wohnen und Umwelt. Für jede Dimension gibt es eine Anzahl von Indizien, wonach dann bewertet wird. Für materielles Wohlbefinden wird beispielsweise die Rate der relativen Kinderarmut als wichtiger Wert herangezogen; hier schneidet Deutschland wegen der staatlichen Transferleistungen im Vergleich „relativ gut ab“, wie der Bericht hervorhebt. Im Feld Gesundheit wird die vergleichsweise geringe Impfrate hierzulande erwähnt, aber trotzdem auf ein hochwertiges Gesundheitssystem hingewiesen. Bei der Bildung wird auf Verbesserungen bei den internationalen Leistungstests wie PISA aufmerksam gemacht: "Die Bewertung für das deutsche Bildungssystem hat sich deutlich verbessert. Gute Noten gibt es für das Leistungsniveau und die hohe Teilhabequote."
Eigentlich für alle der fünf Felder oder Dimensionen gute Noten von der UNICEF. Mit zum Teil bemerkenswerten Aussagen - so etwa dass "direkte körperliche Auseinandersetzungen zwischen Kindern und Jugendlichen hier offenbar deutlich seltener sind als in jedem anderen Land". Oder dass sie in Deutschland "offenbar weniger rauchen (Platz 9) und Cannabis konsumieren (Platz 7) als in der Mehrheit der Industrieländer". Eingeordnet wird das in der Dimension „Verhalten und Risiko“. Das ist, wie die Kriminalitätsrate, die beim Feld "Wohnen und Umwelt" eine Rolle spielt, ein nachvollziehbares Indiz. Dies gilt auch für das Indiz Übergewicht, das in Deutschland nun häufiger beobachtet wird
"In Deutschland leiden inzwischen sogar mehr als 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen an Übergewicht – deutlich mehr als früher.Deutschland liegt jetzt hinter Großbritannien – das sich in dieser Hinsicht besonders deutlich verbessert hat – und der Slowakei auf Platz 12."
Doch öfter irritieren die Indikatoren auch, weil sie zum Teil mit Studien arbeiten, deren Vergleichbarkeit fraglich ist, und weil sie einzeln herausgepickt den "Dimensions-Anspruch" nicht erfüllen; sie sind wie Zooms auf ein größeres Bild, das man aber wegen fehlender Teile nicht recht zusammenbekommt. Natürlich sagt Säuglingssterblichkeit einiges über Gesundheit in Sicherheit in einem Land aus, aber für die Beurteilung einer solchen Dimension in einem Industrieland hätte man sich bezeichnendere Kriterien gewünscht, um Aussagen darüber zu erhalten, wie es um die gesundheitliche Lage von Kindern und Jugendlichen im Alter von 11 bis 15 Jahren steht.
So kommt es, dass man nach den guten Bewertungen und dem Wundern über die doch wenigen und teilweise dünn hinterlegten Schlaglichter, die auf die einzelnen Dimensionen gerückt werden, in dem Bericht plötzlich mit der "Meinung der Kinder", mit derem "subjektiven Wohlbefinden" konfrontiert wird (Seite 6) und mit anderen Maßstäben. Mit den Spitzenbenotungen ist jetzt Schluss. Auf einer Skala von null bis zehn neigten nämlich die 11- bis 15-Jährigen in Deutschland zu schlechteren Bewertungen als in den meisten anderen Ländern und im Jahr 2000 Befragte:
"Anfang der 2000er Jahre gaben noch etwas mehr als 85 Prozent der 11-, 13- und 15-Jährigen Deutschen einen positiven Wert von sechs oder höher an. Nach der neuen Studie ist dieser Anteil auf knapp unter 85 Prozent der Jugendlichen gesunken. Im Vergleich zu anderen Ländern ist Deutschland damit von Platz 12 (von damals 21 Ländern) auf Platz 22 (von 29) abgerutscht."
Das ist ein Unterschied von 16 Plätzen im Vergleich zur anderen Rangliste und derart für kein anderes Land zu beobachten. Weshalb die Studienautoren in Erklärungsnot kommen. Mit dem Verweis darauf, dass die Einschätzungen leider nicht auf regionale Unterschiede in Deutschland differenziert bezogen werden können, stellen sie Überlegungen allgemeiner Art an:
"Der vorliegende Bericht kann diese Entwicklung nicht erklären. Doch die Daten weisen darauf hin, dass viele Mädchen und Jungen hierzulande sich nicht wertgeschätzt und akzeptiert fühlen - möglicherweise, weil sie spüren, dass ihre Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft gering sind. Offenbar fehlt es vielen Kindern in Deutschland an einem positiven Selbstwertgefühl."
Da gebe es viel für die Eltern zu tun, so die UNICEF-Autoren. Sie spekulieren, dass zu hoher Leistungsdruck eine Ursache dafür sein könnte, wenn Kinder mit sich und ihrem Leben unzufrieden sind.