Wer Demokratie will, darf die Bevölkerung nicht fragen
In seiner Kolumne spricht sich Jakob Augstein gegen Volksabstimmungen aus und definiert zeitgleich die Rolle der Parlamente neu
Der Sohn des verstorbenen Rudolf Augstein, Jakob Augstein, hat in Spiegel Online seine regelmäßige Kolumne namens "Im Zweifel links". An der Seite von Sybille Berg oder Sascha Lobo kann er sich dort zu aktuellen Themen äußern. Seine Auseinandersetzung mit den "Panama Papers", dem Neoliberalismus und Kapitalismus sind oft scharfzüngig und zum Nachdenken anregend.
Umso bedauerlicher ist es, dass er in seiner derzeitigen Kolumne in die gleiche Kerbe schlägt wie jene, die Volksabstimmungen schon deshalb für absurd halten, weil die Bevölkerung ja gemeinhin zu träge, zu verblendet und für Rattenfänger offen, kurz gesagt also zu dumm ist, um selbst zu entscheiden.
Zwar darf das Volk nach Ansicht der Vertreter dieser Idee noch regelmäßig an Wahlen teilnehmen, die selbstverständlich den demokratischen Wahlprinzipien entsprechen - das ist dann aber auch alles, was ihm zugestanden wird.
Herr Augstein fügt dieser Ansicht noch eine neue Überlegung hinzu: Das Volk ist fortschrittsfeindlich, was er u.a. an den Schweizer Ansichten zu Minaretten oder den Hamburger Ansichten zu Gemeinschaftsschulen festmacht. Wahlen und Abstimmungen, so Jakob Augstein weiter, führten ja nicht automatisch zu mehr Partizipation, sondern würden in einem Klima sozialer Ungleichheit nur dazu führen, dass sich Besserverdienende mehr engagieren, Niedrigverdienende jedoch gleichbleibend wenig bis gar nicht. Dies sei ja durch Wahlforscher auch erwiesen worden.
Treffend bemerkt er zwar, dass das Wort Demokratie zur Floskel verkommen ist, zieht daraus aber den falschen Schluss. Freie Wahlen würden ja eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung. Dies ist letztendlich natürlich ein Strohmannargument, da niemand nur aus den freien Wahlen heraus eine Demokratie ableiten würde, sondern auch weitere Aspekte zutreffen müssen.
Endgültig entlarvend wird das Ganze, wenn Herr Augstein nun die Rolle der Parlamente als Schutzwall vor dem Volk definiert: "Aus gutem Grund gibt es Parlamente - Sie schützen die Demokratie vor dem Volk und das Volk vor sich selbst" schreibt er - und ist damit in die Reihen jener einzuordnen, die das Parlament, bestehend aus jenen, denen das Volk (das in diesem Fall dann wohl doch wieder zu fragen ist bzw. intelligent genug ist, um die Vertreter zu bestimmen) seine Legitimation für einige Jahre gibt, nicht mehr als Volksvertretung sehen.
Solche Meinungen sind es, die der Bevölkerung auch das Gefühl geben, nur noch "Stimmvieh" zu sein, das brav sein Kreuzchen macht, um dann nicht mehr gefragt zu werden. Sie sind auch zeitgleich ein Schlag ins Gesicht für all jene, die sich in Bürgerbegehren, Volksabstimmungen, Petitionen und anderen Formen des politischen Engagements üben.
Einige wenige, einem nicht genehme Beispiele für Volksabstimmungen zu nutzen, um die Bevölkerung mehr oder minder als Schafherde darzustellen, die dank Schäferhund Parlament im Zaum gehalten wird, ist nicht nur angenehm, es schafft auch weitere Feindseligkeiten und zeugt von einer Überheblichkeit, die sich in den letzten Jahren nicht nur im Journalismus, sondern auch in der Politik breitgemacht hat.
Seit Otto Schilys "paar Hanseln" ist es eine Tradition geworden, die Bevölkerung wahlweise zu beschimpfen oder bei nicht genehmen Entscheidungen zunächst einmal "Aufklärungsdefizite" oder die Offenheit für "Rattenfänger" zu verlautbaren. Kritikresistenz ist mittlerweile zum Standard, nicht zur Ausnahme geworden.
Wenn, wie Herr Augstein schreibt, das Volk nicht befragt werden soll, wenn Demokratie erwünscht ist, dann bleibt nur noch, nicht nur die Volksabstimmungen, sondern auch Wahlen einfach abzuschaffen. Vielleicht wäre dies dann etwas, was dem entgegenkommt, was Herr Augstein wie folgt umreißt:
"Es herrscht ein Notstand der politischen Legitimation. Wie behebt man den? Durch Partizipation? Sollen die Menschen an den politischen Entscheidungen mehr beteiligt werden? Bloß nicht."