Wer irrt schon gerne unter Palmen?

Blog aus Cannes: Spekulationsblase: Wer wird die Preise beim Filmfestival in Cannes gewinnen?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Noch dauert es über einen Tag, bis die Sieger verkündet werden, aber mit Tsai Ming-liangs "Visage" ist der diesjährige Wettbewerb abgeschlossen. Es war ein überaus starkes Jahr, einer der besten des vergangenen Jahrzehnts, vielleicht nur übertroffen von dem von 2004 mit "2046", "Old Boy", "Nobody Knows" und "House of Flying Daggers", den dann "Fahrenheit 9/11" gewann.

Inhaltlich mangelt es nur an wirklichen Neuentdeckungen und stilistisch Innovationen. Stattdessen sah man hier bekanntes Autorenkino auf überhaus hohem Niveau. Entsprechend offen scheint jetzt die Spekulation um den Ausgang des Wettbewerbs um die Goldene Palme, die am Sonntagabend verliehen wird. Nicht weniger als acht Filme sind ernsthafte Kandidaten auf die Goldene Palme: Von Vom Philippino Brillante Mendoza ("Kinatay") bis zum Italiener Marco Bellocchio ("Vincere"). Ob Jurypräsidentin Isabelle Huppert sich wohl traut, dem Österreicher Michael Haneke "Das Weiße Band") die Goldene Palme zu geben? Sie ist mit ihm befreundet, aber verdient hätte er den Preis. Wie Tarantino ("Inglourious Basterds"). Wie Lars von Trier ("Antichrist"). Wie der Franzose Jacques Audiard, dessen philosophischer Gefängnisfilm "Un prophet" mitriss. Und Pedro Almodovar ("Los Abrazos Rotos") und Alain Resnais ("Les Herbes Follies") überzeugten zwar wenig, sind aber als Dauerfavoriten mögliche Kompromisskandidaten.

Weil Kritiker auf Filmfestivals wie dem von Cannes ja nie genug zu tun haben, und sich nach Ansicht Außenstehender sowieso vor allem auf Strandpartys und mit Weltstars im Mittelmeer oder in luxuriösen Hotelsuiten vergnügen, spielen sie auch Spiele. Eines davon ist ein ziemlich schmutziges Spiel, so schmutzig, dass es auch gut in einen Film von Tarantino passen würde: Im privaten Kritikerblog Puntajes des Argentiniers Diego Lerer von der Tageszeitung "Clarin" vergeben sie Punkte. Das passiert zwar sowieso auch in den sogenannten "Dailys", den täglichen Festivalausgaben der angelsächsischen Branchenblätter "Variety", "Hollywood Reporter" und "Screen". Dort führt Audiard, ebenso bei den Franzosen.

Der entscheidende Unterschied von Lerers Blog liegt nun aber nicht nur darin, dass im Gegensatz zu den genannten Branchenblättern hier die Filme aller Sektionen bewertet werden, nicht nur der Wettbewerb um die Palmen. Die Teilnehmer sind auch allesamt eher mainstreamfern, Cinephile, die aus Cannes berichten und dort versuchen, gerade das Seltene und Besondere zu finden, Regisseure die etwas riskieren, und in deren Filmen es gewissermaßen immer ums Ganze geht, und so etwas von einer möglichen Zukunft des Kinos zu ertasten. Mit dabei sind aus den Niederlanden Dana Linssen, Redakteurin des Filmkrant, Violeta Kovacsics von der spanischen Lumiere, Pamela Pienzobras von Mabuse aus Chile, Markus Keuschnigg von "Die Presse" in Wien und Cristina Nord von der Berliner taz.

Und normalerweise hassen gerade diese Leute das Reduzieren von Filmen, die ja gerade dann gut sind, wenn sie etwas Schillerndes und Uneindeutiges haben, auf notgedrungen einseitige Punktetabellen. Was man daraus lernt: Manchmal ist eben das Gegenteil von dem richtig, was sonst immer richtig ist. Und auch Kritiker, die sich schätzen und nahe fühlen sind sich untereinander oft nicht einig. Vielleicht ist das ja auch gerade ihre Qualität.

Darum ist es auch unbedingt lesenswert, wenn man sich für Cannes und die Filme dort interessiert, sich einmal bei verschiedenen, aber gut ausgewählten Kollegen zu informieren. Überaus lesenswert, da voller Fachverständnis, Filmliebe und Anekdoten auch jahrzehntelanger Cannes-Erfahrung und überdies gut geschrieben, ist der Cannes-Blog des US-Kritikerpapstes Roger Ebert.

In neuen Film Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds", auf den wir an dieser Stelle schon zu sprechen kamen, taucht an entscheidender Stelle ein Filmkritiker auf. Er ist, wie könnte es anders sein, ein professioneller Killer. Außerdem Antifaschist und Agent im Geheimdienst seiner Majestät von England. Er ist Experte fürs Ufa-Kino, zugleich ist er aber (?) auch dumm genug, sich durch seinen Akzent zu verraten - bei Kritikern, das will Tarantino uns offenkundig sagen, ist immer alles möglich. Und ganz genau weiß man bei ihnen nie, woran man ist.