Droht Berlin ein schwarz-grünes Erwachen?

Spießer an die Macht: "Das System SPD muss beendet werden" – oder werden die Kleinstparteien zum Zünglein an der Waage?

Wir haben keine "failed city", sondern einen "failed Senat". Die Stadt wird seit Jahren schlecht regiert. Wir haben Verwaltungschaos, Verkehrschaos, Bildungschaos. Das will ich ändern.

Kai Wegner, CDU-Spitzenkandidat

"Das kann funktionieren."

Tarek Al-Wazir, Hessen-Landeschef der Grünen nach der Wahl 2013

Fast 40 Prozent der Berliner sind noch unentschieden, wen sie am kommenden Sonntag bei der Wiederholung der im September 2021 chaotisch verlaufenen Abgeordnetenhauswahl wählen sollen. Kein Wunder: Die Zustimmung zum rot-grün-roten Senat ist gering. Laut ARD-Vorwahlumfrage sind zwei Drittel unzufrieden mit der Arbeit des Senats. Aber die Alternativen erscheinen noch schlechter.

Was soll man nur wählen? Wer findet, er kann Rot-Grün-Rot nicht unterstützen, aber natürlich auch nicht CDU-FDP oder gar die AfD wählen möchte, für den gibt es allenfalls Trost unter den kleinen Parteien.

Aber das könnte den Alptraum der grünen wie der CDU-Basis noch wahrscheinlicher machen: ein Bündnis nach dem Vorbild von NRW, Hessen und Baden-Württemberg: Schwarz-Grün.

Auf jedes Zehntelprozent kommt es an

Vor der Spekulation die Fakten: Die CDU liegt seit Wochen stabil vorn in den Umfragen und legt gegenüber 2021 erheblich, nämlich zwischen sechs und acht Prozent, zu. Gewinnen wird am Ende aller Wahrscheinlichkeit nach aber wieder Rot-Grün-Rot. Denn SPD, Grüne und Linke kommen zusammen auf knapp 50 Prozent, was zu einer klaren Mehrheit der Sitze im Abgeordnetenhaus reichen dürfte.

Tatsächlich kommt es am Sonntag aber auf jedes Zehntelprozent an: Entscheidend für die kommende Regierung wird, wie viel die CDU tatsächlich zulegt, und wer nach der CDU auf Platz zwei landet. Hier liegen die Umfragen zurzeit weit auseinander.

Während das Politbarometer des ZDF (und der Forschungsgruppe Wahlen) die SPD klar als zweite Partei sieht und nur drei Prozent hinter der CDU liegend (24 bzw. 21 Prozent) deutet die Umfrage von Forsa auf einen erheblich deutlicheren Vorsprung der CDU hin.

Sie kommt demnach auf 26 Prozent. Die SPD liegt mit 17 Prozent klare neun Punkte dahinter. Den zweiten Platz hätten danach die Grünen (18 Prozent). In der ARD wie auch in anderen Umfragen liegen SPD und Grüne mit 18 oder 19 Prozent gleichauf. Aber auch hier wird der Abstand zur CDU entscheidend, die in der ARD-Umfrage bei 25 Prozent liegt, in der Wahlkreisprognose nur bei 22 Prozent.

Ein letzter wichtiger Faktor dürfte das Abschneiden der FDP sein, die zwischen fünf und sechs Prozent um ihr parlamentarisches Überleben kämpft, aber eher im Parlament ist als draußen.

Franziska Giffey ist eine erprobte Wahlkämpferin

All diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Denn wie gesagt: Knapp 40 Prozent der Wähler sind noch unentschieden. Sehr wichtig wird am Ende auch die Wahlbeteiligung werden.

Ganz allgemein gehen die Wahlforscher zurzeit davon aus, dass die SPD ihre Anhänger schlechter mobilisieren wird als Grüne und CDU. Andererseits ist die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey eine erprobte und bislang erfolgreiche Wahlkämpferin.

Auch im Sommer 2021 lag Giffey in den Umfragen zurück und holte erst kurz vor der Wahl entscheidend auf. Am Ende siegte die SPD deutlicher, als alle erwartet hatten. Zudem liegt sie in der Persönlichkeitsfrage deutlich auf dem ersten Platz.

Könnten die Berliner den Regierenden Bürgermeister direkt wählen, würde Giffey deutlich vor Kai Wegner (CDU) und Bettina Jarasch (Grüne) gewinnen. Allerdings fehlt Giffey an diesem Sonntag das Zugpferd einer Bundestagswahl.

Schwarz-Grün: "Progressive Koalition"

Die Situation ist spannend, der Dreikampf ums Rote Rathaus völlig offen. Nichts ist derzeit sicher. Nach wie vor steht darum auch eine schwarz-grüne Option im Raum. Keine der beiden Seiten schließt diese Möglichkeit komplett aus, andererseits wird sie auch fast nie in den öffentlichen Planspielen erwähnt. "Nie davon reden, immer daran denken", scheint das unausgesprochene Motto zu sein.

Was CDU und Grüne über alle programmatischen Differenzen und atmosphärischen Dissonanzen hinweg eint, ist die gemeinsame starke Abneigung gegenüber der SPD. "Dieses System SPD muss beendet werden", tönt CDU-Kandidat Wegner in der Welt. Seit 22 Jahren stellen die Sozialdemokraten den Regierenden Bürgermeister, seit 33 Jahren regieren sie mit.

Das Ergebnis ist tatsächlich jenes "Verwaltungschaos, Verkehrschaos, Bildungschaos", das der CDU-Spitzenkandidat dem Senat vorwirft – ohne hinzuzufügen, dass die CDU zwischen 2011 und 2016 zu diesem Zustand eine Menge beigetragen hatte.

Die Grünen-Spitzenkandidatin schließt eine Koalition mit der CDU auf den ersten Blick klar aus: "Bei der Wahl wird entschieden, ob künftig die CDU regiert oder eine progressive Koalition", sagte sie dem Tagesspiegel.

Aber völlig ausgeschlossen ist nichts. Wenn es für eine Zweierkonstellation reicht, wäre alles möglich, denn dann könnte die skeptische grüne Basis mit mehr Einfluss und Senatsposten überzeugt werden.

Auch in Hessen war der Wahlkampf zur Wahl 2013 geprägt von scheinbar unüberbrückbaren Differenzen zwischen beiden Parteien. Nach der Landtagswahl aber vereinbarte man eine Koalition auf Augenhöhe – weil beide Seiten es wollten. In Berlin ist eine Einigung schwer, aber nicht unüberbrückbar.