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Mihai Nadin erkundet das Leben 'Jenseits der Schriftkultur'
Ein Buch, zwei Bücher: Dasselbe Werk erscheint in zwei Sprachen, und die beiden Ausgaben sind nicht ganz deckungsgleich. Das ist noch nichts Besonderes, sondern in der Wissenschaftspublizistik eher die Regel. Doch eröffnet das parallele Lesen beider Ausgaben einen anderen Blick auf den gemeinsamen Inhalt - vor allem auch, weil es um Sprache und Schrift, Bilden und Denken geht. Mihai Nadin stellt auf fast 900 Seiten in englisch und über 400 Seiten in deutsch - ohne jede Abbildung außer dem Titel - die These auf, dass unser Denken sich von Sprache und Schrift entfernt. Ein Paradoxon, das der Autor lustvoll angeht und dennoch ernst nimmt.
Drei Gedanken: Das Titelbild beider Ausgaben zeigt das Raumschiff Erde im dunklen All, beleuchtet wird es von seinem Spiegelbild im Monitor, der wiederum Strahlen durch ein aufgeschlagenes Buch sendet. Der Schatten des Buches fällt dunkel auf die Erde und wird partiell von einer weiteren Projektion des Bildschirms überschnitten, der nunmehr zwei weitere Bildschirme zeigt, die einander blind gegenüber stehen. Das Bild dieses Monitors hat Nadin früher bereits zur Illustration seiner Thesen verwendet, wobei es ihm um die Überwindung der flach photographischen Projektion ging. Das aufgeschlagene Buch zeigt zur Linken Blätter aus einem Stunden- und einem Skizzenbuch auf dunkelgelbem, also überaltertem Papier; die rechte Seite des Buches ist einmal mehr einem flachen Bildschirm in dezentem Bürograu vorbehalten, dessen Fläche mit Lagen von Rechnerskalen, einer Web-Site und einer Weltkugel gefüllt ist. Diese Buchseite ist durch einen weichen Lichthof aufgehellt, der sich um das Strahlenbündel zwischen Monitor und Erde verbreitet.
Mihai Nadin, seit 1994 Professor für Computational Design an der Gesamthochschule Wuppertal, hat mit diesen ein/zwei Büchern die Summe seines Lebenswerks nieder gelegt. Fünfzehn Jahre habe er für das Verfassen dieses Werks gebraucht, heißt es in den Begleittexten. Für den Gegenstand ist dies eine lange Zeit, sie umspannt die gesamte Erfolgsgeschichte des Personal Computers und des Internets. Also leuchtet die Sonne seines Titelbildes schon ein wenig matter als das Leitgestirn unseres Planetensystems. Und ein wenig Ermattung macht sich auch in der Lektüre breit. Mit Boris Groys ist der postmoderne Held müde, aber er muss halt seine Arbeit tun und die Welt retten, also rafft er sich auf. Dieses Gefühl des Unvermeidlichen trägt auch das Buch, der Autor evoziert es als rhetorische Strategie.
Bewundernswert ist die unerschöpfliche Menge des Materials, die in diesem Band zusammen getragen wurde : n Ideen. Jede Seite versprüht ein Feuerwerk aus Geschichte, Anthropologie und Informatik; in jedem Absatz werden Alltag und Philosophie, Kunst und Technik auf neue Weise mit einander verknüpft. Hilfreich ist es, wenn man als Leser/in Mihai Nadin schon ein Mal bei einem Seminar oder Symposion erlebt hat: Große Strecken seiner Beweisführungen kann man sich am Besten laut gelesen und frei vorgetragen vorstellen. Einige Passagen des Buches mögen Nadins zahlreichen Bewunderern bekannt vorkommen: Sie sind in Zeitschriften wie LIVING bereits Mitte der 1990er Jahre publiziert worden. Andere Passagen habe ich vermisst, etwa die Selbstbeschreibung seiner Wuppertaler Curricula im zweiten 'form-diskurs' von 1997; sie hätte ein besseres Nachwort der deutschen Fassung des Buches gegeben als das Vorhandene.
Angesichts einer überbordenden Fülle von Themen, Diskussionen und Fragestellungen, die Nadin in seinem Werk anreißt, verbietet sich jede kleinliche Kritik an Details. Jede/r Leser/in wird sie aus seinem eigenen Wissensgebiet anbringen können; Jede/r wird die Geschichte(n) aus dem eigenen Fach oder Beruf besser kennen und von daher das Ganze anzweifeln. Das ist bei einem so monumental auftretenden Werk eine typische Reaktion - schließlich ist die Oberflächlichkeit Programm und damit Vorsatz -, aber sie führt bei längerem Nachdenken über diese Details hinaus zu einigen grundsätzlichen Überlegungen, die sich mir als Fragen geradezu aufdrängten. Wesentliche Schuld daran trägt ein weiteres rhetorisches Moment des Buches, die Rückbeziehung eines jeden Themas auf anthropologische Entwicklungen, auf vor- und frühgeschichtliche Erkenntnisse. Diese geschieht fast durchwegs der Gestalt, dass bei der Aufnahme eines Themas oder Gedankengangs zunächst die steinzeitliche Urhorde als Grundlage menschlichen Handelns erwähnt wird, worauf die objektiv geschilderte historisch-materialistische Entwicklung dazustellen ist - beste marxistische Schulung aus den 1960er Jahren. Prinzipiell ist dieses Vorgehen nicht das Schlechteste und wird auf dem Schutzumschlag ausdrücklich von Umberto Eco gelobt, aber es bleiben gerade bei den fundamentalen Annahmen einige blinde Flecken.
Mihai Nadin beschreibt an Hand nahezu jeden Details die Bedeutung der Schrift für die jeweilige historische Situation, aus der heutige Verbildlichung oder Illiterazität (hervorragend zu diesem Wortgebrauch: die Anmerkungen des Übersetzers) destilliert wird. Dabei gerät ihm mehr als ein Mal die Unterscheidung von gesprochener Sprache, schriftlicher Fixierung in sprachlichen Zeichen (Hieroglyphen, Buchstaben) und mathematischer Notation (Ziffern, Rechenoperatoren) durcheinander. Selten wird in seiner Darstellung vorgeschichtlicher Phänomene zwischen Schreiben und Rechnen unterschieden; umgekehrt muss ein Philosoph und Historiker wie Leibniz erdulden, allein auf seine - lückenhaften und meist en passant abgehandelten - mathematischen Problemstellungen reduziert zu werden. Die von Paul Zumthor so deutlich beschriebene und von Jean Starobinski auf viele soziale Phänomene übertragene Parallelität sprachlicher wie zeichenhafter Traditionsbildung durch orale und schriftliche Vermittlung, die von der Antike bis in die frühe Neuzeit reicht und sich für die Darstellung vieler Motive des Buches eignet, wird weitgehend vernachlässigt.
Methodisch präsentiert sich Mihai Nadin als Semiotiker, der - auch ausweislich seiner umfangreichen Bibliographie - sich in erster Linie auf pragmatistische Zeichenlehren wie die von Charles S. Pierce stützt, womit er sich von der Breite seiner Themenwahl wie vom Angang einer Analyse der jeweiligen Zeichenwelt - das Wort 'Semiosphäre' kommt allerdings nicht vor - in die Tradition eines Max Bense und eines Umberto Eco stellt. Wie jene seziert er die einzeln betrachteten Phänomene messerscharf, um in der Behandlung seines Themas selbst merkwürdig unscharf zu bleiben - allzu gern wird dann auf Lotfi Zadeh und seine Fuzzy Logic zurück gegriffen. Ähnlich weich argumentierten Bense in seinen Stuttgarter Vorlesungen und Eco im 'Offenen Kunstwerk', und mir erklärt sich dieses begriffliche Schwimmen aus einem grundsätzlichen Aspekt - alle drei kommen ursprünglich von der Literatur, teilweise auch von der Mathematik her, und können bei der Betrachtung visueller (oder musikalischer) Gegenstände schon im Vorfeld der Wahrnehmung nicht auf die Interpretationsleistung einer wörtlichen Erkenntnis verzichten. Mihai Nadin hat hierfür auf der Homepage des Computer-Künstlers Manfred Mohr ein gutes Beispiel gegeben; für den, der Mohrs frühe Arbeiten nicht sehr genau kennt, bleibt der Text trotz seiner großen sprachlichen Qualitäten blass.
Die Fehlstelle des Pierce'schen Zeichensystems liegt in einer für sprachwissenschaftliche Reflexionen typischen Nichtbeachtung aller Zeichen, die über den Hinweis hinausschießen, den Verweis verweigern oder einfach sich selbst genügen, und das Alles vor jeder sprachlichen Fassung. Oskar Negt und Alexander Kluge übernahmen in den 1970er Jahren mit einiger Irritation die Beobachtung von Marianne Herzog, dass Fließbandarbeiter/innen sich in überflüssigen Bewegungen eine Eigenart gegenüber der Maschinisierung ihrer Tätigkeit bewahrten (Geschichte und Eigensinn, Frankfurt 1981, S.107). Die Beobachtungen Mihai Nadins sind dagegen immer in den zwingenden Kontext einer Funktionalisierung oder Historisierung gebunden. Handwerkliche Bewegungsabläufe, die allein Routine garantieren und dadurch - gleich ob am Amboss oder am Computer - schnelle wie zuverlässige Produktion von (Mehr-)Wert ermöglichen, sind für ihn im jungsteinzeitlichen Homo faber sedimentiert und von daher ein menschliches Auslaufmodell. Ein folgenschwerer Fehler: 14-16jährige Schüler mit 2-3jähriger Praxis an Ballerspielen sind punktgenauere Schützen als die best trainierten KGB-, CIA- oder Mossad-Agenten, wie Vorfälle in den USA und hier zu Lande demonstrierten.
Das Pasticcio des Titelbilds steht für die Problematik der Nadin'schen Gedanken: Montiert sind hier Konventionen, von Buckminster Fullers 'Raumschiff Erde' über den schreibenden Mönch zu Leonardos Skizzenbuch und dem Laserstrahl als Rotationsachse eines Weltmodells. Über Allem schwebt das mild strahlende Licht bläulicher Erleuchtung, und im Bildschirm spiegelt die Erde sich selbst. Rhetorisch herrscht der klassische Dreisprung vor, nur bei den Ausblicken in die Zukunft wird es elliptisch. Kein Detail ist unbekannt, aber das verwendete Zeichensystem erlaubt auch keinen Ausflug in eigene Interpretationen, sondern möchte den Gegenüber im Lesen zur Anerkennung methodischer Objektivität zwingen. Zieht man die Elemente zusammen und reduziert ihre Syntax auf eine Addition von Ideologemen, so bleibt in etwa der Inhalt jener 'Magna Charta of the Knowledge Age' der Autor/innen Dyson, Gilder, Keyworth und Toffler übrig, die seit 1992 durchs Netz geistert und meist die Wahlplattform der amerikanischen Republikaner abgibt - sieht man von Nadins Bemerkungen zur Religion ein Mal ab. Für den riesigen Aufwand umfassender Zeichenlehren und makrosoziologischer Pragmatik ist dieses Ergebnis, einem unendlich überdehnten Arpeggio gleich, zu wenig.
Gestört scheint des Autors Verhältnis zu den Geisteswissenschaften, die er mindestens in der englischen Ausgabe mehrfach als europäische Altlast abtut, auf die sich auch die Asiaten allzu heftig eingelassen hätten. Das mag seine unbestrittene Meinung sein und ist häufig amüsant vorgetragen, wirft aber auf die unzähligen Bemerkungen zu den Bildungsinstituten ein eigenartiges Streiflicht. Einerseits vergleicht er nur zu gern die amerikanischen Elite-Institutionen mit dem Durchschnitt deutscher Universitäten - und das ist eine mindestens statistisch unsaubere Argumentation -, andererseits traut er dem eigenen Beruf nicht recht: Wer Design unterrichtet, sollte vor-sprachlicher Tätigkeit mindestens den Rang einer didaktischen Software geben. Die deutsche Sprache ist voller Metaphern für das Primat des Visuellen im Lernen und Lehren: Bildung setzt ins Bild, und so weiter. Mich hat gewundert, dass unter den unendlichen Beispielen für die Verschriftlichung unseres Denken kein einziges Wort über die Bedeutung der Typographie in diesem Prozess gefallen ist. Etwas Nachdenken zu diesem Thema hätte vielleicht auch zu einem besseren Buch-Entwurf geführt; beide Versionen sind durch ihre Langzeilen schwer lesbar, die deutsche zudem durch die winzige Schrift arg augen-unfreundlich. Und eine konventionellere Schrift als die Janson - die im 16. Jahrhundert als Auszeichnungsschrift fast nur mittig gesetzt wurde - gibt es auch kaum.
In Sprache und Argumentation ist das Buch - die englische Version als Original vorausgesetzt - das klassische Produkt eines Migranten. Mihai Nadin wandert zwischen den Welten, zwischen Ost und West, zwischen vielen Sprachen und Zeichensystemen, auch zwischen wissenschaftlichen Konventionen und der daraus folgenden Essayistik. Hier ist die rundum gelungene deutsche Übersetzung durch Norbert Schneider zu loben. Sie präzisiert alle Ideen, löst sie aus der extremen Verknappung samt Vieldeutigkeit englischer Wortspiele - solide Etymologie wird hier nicht betrieben - und weiß sogar das englische 'knowledge' in Fertigkeiten und Fähigkeiten zu differenzieren. An der deutschen Version stört mich weniger das Fehlen einiger Kapitel zu Sex, Familie und Religion als der Verzicht auf die Anmerkungen und Literaturhinweise. Kaum Einer der von mir angedeuteten Titel findet sich im Literaturverzeichnis.
Bezüglich des Titels bittet Nadin in beiden Vorworten darum, ihm die Originalität des Begriffs abzunehmen, nachdem inzwischen eine Reihe von Werken mit ähnlichen Titeln erschienen seien. Ein Mal mehr erscheint mir dies ein grundsätzliches Problem der ganzen Arbeit zu beleuchten: Jeder einzelne Aspekt des Buches hätte ein amüsantes, lesenswertes und erkenntnisträchtiges Essay ergeben, deren lose Zusammenfassung auch die Zeitverschiebungen in der Entstehung über anderthalb Jahrzehnte aufgefangen hätte. Jede einzelne Idee, von Mihai Nadin selbst vorgetragen, ist eine Bereicherung für jedes Symposion und wäre als Mitschnitt im Tagungsband nachlesbar gewesen. Der Drang jedoch, aus Allem ein großes Ganzes zu schmieden, hat die vielen schönen kleinen, diskussionswürdigen und diskurs-bereichernden Ideen (n Exponent e), in einen allzu engen Käfig gesperrt.
Darum am Ende eine Leseempfehlung: Aus der deutschen Version des Buches ergeben das Vorwort und das fünfte Buch, die Bemerkungen zur Politik und manche Hinweise zum virtuellen Design ein schlüssiges Bild vom anregenden, manchmal sogar großen Denker Mihai Nadin. Einer zweiten Auflage des deutschen Bandes wäre die Hinzunahme der Literaturangaben zu wünschen, und sei es auf Kosten des Kapitels über den Sport. Für alles Andere gilt Mies van der Rohes oft fehlinterpretiertes Wort : Less is more - (und nach einem Atemzug aus der dicken Zigarre) more is a bore. Nur die Postmoderne konnte daraus machen - less is a bore. Aber die ist unwiderruflich vorbei.
Mihai Nadin, The Civilization of Illiteracy, Dresden : Dresden University Press 1997, ISBN 3-931-828-387, 881 S., DM 128,00
Mihai Nadin, Jenseits der Schriftkultur. Das Zeitalter des Augenblicks, Dresden : Dresden University Press 1999, ISBN 3-933168-17-1, 427 S., DM 48,00