1 von 500.000: Führende Epidemiologen berechneten das Sterberisiko durch COVID-19
Und empfehlen maßgeschneiderte Schutzmaßnahmen für die Risikogruppen
Um Missverständnisse gleich am Anfang zu vermeiden: Die Angabe im Titel bezieht sich auf die Anzahl der Menschen in Deutschland im Alter bis 65 Jahren, die bis zum 4. April laut offizieller Angabe am Coronavirus starben. Das waren 1,7 pro Million oder eben etwas weniger als einer pro halber Million. Im Hotspot Spanien traf es bei den Über-80-Jährigen einen von 420. Damit ist der Rahmen des Sterberisikos vom Minimum zum Maximum abgesteckt.
Einer der weltweit führenden Epidemiologen, John Ioannidis von der Stanford University, schaute sich mit zwei Kollegen für die zur Publikation eingereichte, aber noch nicht begutachtete Studie die Altersverteilung bei den Corona-Opfern genauer an. Da diese Studie nach meinen Recherchen noch nicht bei den SciLogs, auf Telepolis oder der Tagesschau erwähnt wurde, mache ich hiermit auf die Ergebnisse aufmerksam. Zuerst aber noch eine Bemerkung zu den regierenden Politikern.
Wie Politiker Vertrauen verspielen
In Diskussionen begegnete ich mehrmals dem Einwand, eher autoritäre Präsidenten wie die der USA oder Brasiliens hätten die Gefährlichkeit des Coronavirus viel zu lange heruntergespielt. Das kann man natürlich kritisieren. Man darf dann aber nicht vergessen, dass regierende Politiker fast aller Länder noch im Februar Ähnliches taten und man dann beispielsweise in Deutschland erst Mitte März hart durchgriff, während man zuvor vor allem Reisende zum Ausfüllen von Fragebögen aufforderte.
Eine ähnliche Kehrtwende zeichnet sich gerade bei den Atemmasken ab: Erst hieß es die ganze Zeit, diese würden nichts bringen. Jetzt sollen sie mancherorts gesetzlich verpflichtend werden. Übrigens ist auch die Wirksamkeit zahlreicher über grundlegende Hygieneregeln hinausgehender Maßnahmen laut einer WHO-Studie nicht wissenschaftlich belegt (COVID-19: WHO-Studie findet kaum Belege für die Wirksamkeit von Eindämmungsmaßnahmen). Evidenzbasierte Politik geht anders.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte in einer Bundestagsdebatte, man werde einander in den nächsten Monaten viel verzeihen müssen (danke für den Leserhinweis). Verzeihen muss man wohl erst einmal, dass entsprechende Risikoanalysen in den Schubladen der Ministerien lagen, ohne dass man etwas damit getan hätte. Deshalb wurden viele europäische und amerikanische Länder von der Pandemie kalt erwischt. Das hat mit Sicherheit Menschenleben gekostet.
Verzeihen müsste man wohl auch die Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen, wo man das Personal mit immer neuen bürokratischen Konstrukten erdrückte und mit effizienzoptimierenden Maßnahmen vor allem am Kostenpunkt "Mensch" sparte. Es erforderte eine Krise vom Ausmaß des Coronavirus, um deutlich zu machen, dass nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern das gesamte Personal in den Pflege- und Heilberufen von entscheidender Bedeutung ist: von Bedeutung für das Leben zahlreicher Menschen.
Die Verknappung von Ressourcen im Gesundheitswesen und deren Folgen sind also hausgemacht. Dazu noch eine Bemerkung zur Gender- oder Gleichstellungspolitik: Seit Jahren - oder wahrscheinlich eher schon Jahrzehnten - werden Frauen dazu aufgefordert, stärker in die Technikberufe zu gehen. Salopp gesagt entscheiden sich viele Frauen aber nach wie vor dafür, lieber "etwas mit Menschen" zu machen. Dazu ein bisher übersehener Befund aus der PISA-Erhebung von 2018:
Unter den in Mathematik oder Naturwissenschaften leistungsstarken Schülerinnen und Schülern rechnet in Deutschland etwa ein Viertel der Jungen - aber nur ein Achtel der Mädchen - damit, im Alter von 30 Jahren als Ingenieur oder Naturwissenschaftler tätig zu sein. Etwa ein Viertel der leistungsstarken Mädchen geht davon aus, später einen Gesundheitsberuf auszuüben. Unter den leistungsstarken Jungen ist dies für weniger als ein Zehntel der Fall. Lediglich 7% der Jungen und 1% der Mädchen in Deutschland glauben, dass sie im IKT-Bereich tätig sein werden.
Deutschland - Ländernotiz - Ergebnisse PISA 2018, S. 7
Gemäß der Gender- oder Gleichstellungspolitik würden wir in Zukunft also noch größere Personalprobleme im Gesundheitswesen haben. Um das politisch gewünschte Abwandern von Frauen von den Menschen- in die Technikberufe zu kompensieren, müsste man entweder mehr Männer in die Menschenberufe überführen oder mehr Einwanderer ins Land holen. Letzteres würde natürlich wieder zum Aufschrei am rechten Rand führen, dass "die Ausländer" uns die Arbeit wegnehmen.
Was soll dieser Exkurs in der Corona-Krise? Er zeigt, dass Politiker die Probleme, die sie dann medienwirksam zu lösen versprechen, oft selbst verursachen. Frauen verdienen zu wenig? Na, dann fangt doch einfach mal damit an, die Menschen in den Pflegeberufen besser zu bezahlen! Und das sind oft genug eure eigenen Angestellten auf der Landesebene. Oder die von Konzernen, die ihr mit Privatisierungen überhaupt erst beflügelt habt.
Das COVID-19-Sterberisiko
Dass wir nach wie vor nicht genau wissen, wie viele Menschen als Folge einer Coronavirusinfektion schwer erkranken oder sterben, liegt vor allem am Fehlen repräsentativer Studien. Mir ist unerklärlich, warum wir gegen Ende April immer noch so im Dunkeln tappen. Wenn, wie Charité-Virologe Drosten gerade gegenüber der FAZ erklärte, dass schon seit der dritten Märzwoche wöchentlich über 300.000 Corona-Tests durchgeführt werden, hätte man doch leicht 2.000 bis 10.000 für repräsentative Studien reservieren können, wie ich es schon am 8. April forderte (Zahlen und Logik der Corona-Krise).
Wohlgemerkt, es geht hier nicht nur um ein reines Erkenntnisinteresse. Denn für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der größten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland - sprich: seit der Nazi-Terrorherrschaft - ist die Frage der Verhältnismäßigkeit mitentscheidend. Und dafür müssen wir eben wissen, a) wie gefährlich das Virus wirklich ist und b) wie stark die einschränkenden Maßnahmen die Verbreitung des Virus behindern.
Dass man stattdessen Bürgerinnen und Bürger tagtäglich mit so dramatischen wie missverständlichen Zahlen über "Neuinfektionen" verängstigt, die aller Wahrscheinlichkeit nach ein statistisch verzerrtes Bild geben (Von der fehlenden wissenschaftlichen Begründung der Corona-Maßnahmen), wie im zitierten FAZ-Artikel jetzt wohl auch Drosten einräumt, ist meiner Meinung nach schwer verzeihlich. Ich hoffe sehr, dass auch die Gerichte die Maßnahmen jetzt noch einmal stärker auf ihre Verhältnismäßigkeit hin prüfen. Und hierfür können die Berechnungen von John Ioannidis und Kollegen informativ sein.
Wie eingangs berichtet, beziehen diese leider nur die Daten bis zum 4. April ein. Laut Angabe der Forscher waren die meisten in ihrer Analyse berücksichtigten Länder - konkret: Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und die Schweiz sowie die US-Bundesstaaten Louisiana, Michigan und Washington und schließlich New York City - zu diesem Zeitpunkt aber schon über dem Berg der Coronavirus-Infektionen und der COVID-19-Ausbrüche. Daher dürfte sich bisher an den grundlegenden Ergebnissen nichts Wesentliches geändert haben.
Da wir, dank fehlender repräsentativer Studien, die tatsächliche Gefährlichkeit des Coronavirus nicht kennen, liefern die Analysen von Ioannidis und Co. Hinweise auf makroskopischer Ebene. Die Epidemiologen verglichen nämlich die Anzahl der COVID-19 zugeschriebenen Sterbefälle für verschiedene Länder unter Einbeziehung des Alters und, wo möglich, möglicher Vorerkrankungen der Betroffenen. Das erklärt auch die Länder- und Staatenliste, denn nur für diese Gebiete waren die erforderlichen Daten verfügbar.
Eine makroskopische Sichtweise
Eingangs kritisieren auch diese Forscher die dramatisierenden Darstellungen in den Medien:
Die Medien haben Fälle junger, gesunder Individuen mit schweren, tödlichen Verläufen hervorgehoben. Der Großteil der Patienten, die mit SARS-CoV-2 sterben, ist jedoch älter und die große Mehrheit der Verstorbenen mag ernsthafte Vorerkrankungen haben. In der Reaktion auf die Pandemie sollten Übertreibungen vermieden werden.
Ioannidis, Axfors & Contopoulos-Ioannidis, 2020, S. 4; dt. Übers. d. A.
Das Vermeiden von Übertreibungen in der Medizin-Berichterstattung gebietet übrigens auch Ziffer 14 des Deutschen Pressekodex. Unter Einbeziehung der bis zum 4. April verfügbaren Daten kommen die Epidemiologen zum folgenden Ergebnis:
Aufgrund Ihrer zahlen können John Ioannidis und Kollegen nun präzise berechnen, dass Menschen im Alter bis 65 Jahren in den genannten europäischen Ländern ein 34- bis 73-mal niedrigeres Risiko hatten, an COVID-19 zu sterben, als die Älteren. In den US-Regionen war der Unterschied geringer und betrug nur ein 13- bis 15-mal geringeres Risiko. Das erklären die Forscher durch soziodemografische Faktoren, sprich: vor allem Armut und fehlenden Zugang zum Gesundheitssystem.
Soweit haben wir uns mit relativen Zahlen beschäftigt. Zum besseren Verständnis folgen hier nun die absoluten Zahlen (wieder bis einschließlich 4. April):
Diese Zahlen vermitteln uns einen besseren Eindruck darüber, wie gefährlich das Coronavirus nun ist. Hierin finden sich die 1,7 Sterbefälle in Deutschland pro Million bei den jüngeren Menschen, die ich eingangs erwähnte. Im schwer getroffenen Spanien waren es bei den Älteren ca. 2300 pro Million - wobei in dem Land rund 3 Millionen Über-80-Jährige leben. In Spanien "erwischte" es bis zum 4. April also jeden 420. der Über-80-Jährigen, in Deutschland jeden 6000. in dieser Altersgruppe.
Die Forscher diskutieren im Detail noch etwas ausführlicher, wie Vorerkrankungen - nämlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes, chronische Atemwegserkrankungen, Nierenversagen, schwere Lebererkrankungen, Immunschwäche und bösartige Tumore - und Altersunterschiede in der Gruppe der Bis-65-Jährigen die Risiken beeinflussen.
Die drei Epidemiologen kommen schließlich auf die Idee, die Risiken durch das Coronavirus mit den Risiken im Straßenverkehr zu vergleichen. Dafür erhoben sie die Daten für die Verkehrstoten pro mit einem Motorfahrzeug zurückgelegten Kilometer für jede der genannten Regionen. Das ergibt das folgende Bild:
Mit anderen Worten: Für die Bis-65-Jährigen war die Coronakrise bisher so lebensgefährlich, wie (seit Ausbruch der Pandemie) täglich eine Strecke von 14,5km mit dem Auto, Motorrad, LKW und so weiter zurückzulegen. Je höher dieser Wert ist, desto gefährlicher war das Virus im Vergleich in diesem Land. Denn logischerweise ist ja das Risiko für einen Verkehrsunfall größer, wenn man 50 oder 100km zurücklegt, als wenn man nur 15km fährt. In den Worten der Wissenschaftler:
Auf Grundlage der Daten bis zum 4. April entspricht die Sterblichkeit durch COVID-19 (betrachtet ab dem ersten Tag, an dem für die jeweilige Region ein Todesfall erfasst wurde) für einen Bis-65-Jährigen dem Zurücklegen von 14,5 bis 667,7km in einem Motorfahrzeug. Dabei befanden sich die meisten analysierten Infektionsherde am niedrigeren Ende dieses Spektrums, wo sich das Risiko ungefähr auf demselben Niveau bewegt, wie bei einem Verkehrsunglück im täglichen Pendelverkehr zu sterben.
Ioannidis, Axfors & Contopoulos-Ioannidis, 2020, S. 13; dt. Übers. d. A.
Einschränkend geben die Forscher aber zu bedenken:
Wir sollten einräumen, dass wir uns auf das Sterblichkeitsrisiko konzentrierten und nicht auf Krankenhausaufnahmen. Empirische Daten zeigen, dass COVID-19 das Potenzial hat, bestimmte Krankenhäuser zu überfordern. Das gilt insbesondere dort, wo die Krankenhäuser bereits unter normalen Umständen am Maximum ihrer Kapazität operieren und wo sie Populationen mit hohem Risiko und in Städten mit hoher Bevölkerungsdichte und größeren Zusammenkünften in Massenveranstaltungen versorgen. Darum ist die Vorbereitung der Krankenhäuser essenziell, unabhängig davon, ob das Todesrisiko in der Allgemeinbevölkerung sehr niedrig ist.
Ioannidis, Axfors & Contopoulos-Ioannidis, 2020, S. 13; dt. Übers. d. A.
Fazit
Angesichts des von den führenden Politikern und einschlägigen Forschern zu verantwortenden Fehlens repräsentativer Daten über die Gefährlichkeit des Coronavirus stellen die Berechnungen von John Ioannidis und seinen Kollegen eine interessante alternative Betrachtungsweise dar. Natürlich sind in ihren Ergebnissen die Folgen der Schutzmaßnahmen in den verschiedenen Regionen sowie die Kapazitäten der jeweiligen Gesundheitssysteme enthalten.
Damit ist auf jeden Fall gezeigt, dass SARS-CoV-2 kein gefährliches Killervirus ist und dass es für Menschen im Alter bis 65 Jahren und ohne Vorerkrankungen weitgehend ungefährlich ist, wenn es für sie eine ausreichende Gesundheitsversorgung gibt. Damit ist nicht gesagt, dass man eine freie Verbreitung des Virus zulassen sollte, aber doch wird die Notwendigkeit eines harten Lockdowns in Frage gestellt. Dazu noch einmal die drei Wissenschaftler:
Das absolute Todesrisiko überschreitet selbst in der höchsten Alterskategorie und selbst in den größten Infektionsherden nicht 0,24% und ist an den meisten Orten kleiner als einer pro Tausend. Diese Risiken könnten trotzdem hoch genug sein, um eine hohe Wachsamkeit zu rechtfertigen, und legen nahe, dass man unabhängig von der gewählten Strategie in Reaktion auf COVID-19 jetzt oder in künftigen epidemischen Wellen einen besonderen Schwerpunkt auf den Schutz der ältesten Individuen legen sollte. […]
Aggressive Maßnahmen wie Lockdowns wurden in vielen Ländern eingeführt. Das ist eine völlig gerechtfertigter 'Sicher-ist-sicher'-Ansatz in Abwesenheit guter Daten. Langfristige Lockdowns könnten aber größere Nebenwirkungen für die Gesundheit (so wie Suizide, verschlechterte psychische Gesundheit, Herzkreislauferkrankungen, den Verlust der Krankenversicherung wegen Arbeitslosigkeit und so weiter) in der Gesamtgesellschaft haben.
Ioannidis, Axfors & Contopoulos-Ioannidis, 2020, S. 16; dt. Übers. d. A.
Die Epidemiologen kommen zum Schluss auf die Daten aus Island, um die Sterberate der Corona-Infizierten zu schätzen. In diesem kleinen Land wurden besonders viele Menschen getestet und ist die Datenlage daher besonders gut. Demnach könnte die Sterberate bei 0,1% oder einem von Tausend aller Infizierten liegen und würde sich in der Größenordnung der saisonalen Grippe bewegen. Man brauche jetzt maßgeschneiderte Maßnahmen, die auch das soziale Leben und das ökonomische Funktionieren berücksichtigen.
Dem möchte ich noch hinzufügen, dass Corona auch im Sinne einer "zweiten Grippe" gefährlich sein kann, eben dann, wenn es die Kapazitäten des Gesundheitssystems überspannt. Damit wären wir wieder auf der politischen Ebene angekommen, wo wir angefangen haben.
Ich bezweifle, dass die jetzt verordnete und vor wenigen Wochen noch als sinnlos bezeichnete Maskenpflicht der richtige Ausweg ist. In den Niederlanden versucht man es hingegen mit einem "intelligenten Lockdown". Großveranstaltungen bis auf Weiteres auszusetzen, scheint mir eine sinnvolle Maßnahme. Im Übrigen sozialen Leben sollte man bestimmte Hygienemaßnahmen einhalten, deren Wirkungsweise auch durch WHO-Studien wissenschaftlich belegt ist.
Das Leben wird weitergehen und auch trotz bestimmter, quantifizierbarer Risiken bewegen sich die meisten von uns tagtäglich wie selbstverständlich im Straßenverkehr. Meiner Meinung nach wäre es 2020/2021 sowieso zum nächsten ökonomischen Crash gekommen - wegen der nachlassenden Weltkonjunktur, der in der EU immer noch nicht gelösten Schuldenproblematik und anderen Krisenherden auf der Welt.
Sehen wir die Coronapandemie als Chance, dem Virus die Schuld dafür zu geben und größere Verwerfungen zu vermeiden. Bisher wurden rund um den Globus ja weitreichende Hilfsmaßnahmen genauso gerechtfertigt. Es wäre aber ein Trugschluss, davon auszugehen, dass damit alle Probleme gelöst sind. Insbesondere beim Seuchenschutz, aber auch beim Geld- und Wirtschaftssystem müssen die regierenden Politiker nun endlich ihre Hausaufgaben machen und die für ein friedliches wie nachhaltiges Zusammenleben notwendigen Schlussfolgerungen ziehen.
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.