100 Jahre Türkei ohne Erdogan?

Seite 2: Opposition hat viel zu kritisieren, aber eine Achillesferse

Doch Kilicdaroglu hat bei der kurzsichtigen AKP-Regierungspolitik viel Munition, bei dieser Selbstdarstellung Sand ins Getriebe zu steuern. Gerade, wenn es um die Erdbebenfolgen geht. Die AKP hat acht sogenannte Bauamnestien durchgeführt, bei denen man Schwarzbauten durch Zahlung einer Gebühr legalisieren konnte.

Davon wurde reger Gebrauch gemacht und über die Hälfte der Gebäude in der Erdbebenregion wurden in der Ära Erdogan nach dem Millennium errichtet. Genau hier kam es wegen der Bauweise zu erheblichen Schäden, was den Ruf der AKP nachhaltig schädigte.

Außenpolitisch versucht Kilicdaroglu ebenfalls eigene Akzente zu setzen. Er will die unter Erdogan verschlechterten Beziehungen der Türkei zur EU normalisieren und wieder Verhandlungen über einen EU-Beitritt des Landes aufnehmen. Dennoch ist das außenpolitische Konzept der Opposition ihre Achillesferse.

Bei der Vermittlung im Ukrainekrieg, bei den Beziehungen zu Russland oder in Bezug auf die Situation im benachbarten Syrien existiert noch keine konkrete Strategie. Man versucht sich damit herauszureden, dass die erste Priorität Erdoğans Ablösung und eine demokratische Reform sei – dann könne man sich einer neuen Außenpolitik widmen.

Die Stellung der türkischen Frauen ist traditionell stark

Zu Beginn wurde der Sieg Erdoğans 2002 als Rache der Islamisten für das 20. Jahrhundert bezeichnet. Der von Atatürk im letzten Jahrhundert geschaffene Staat war betont säkular und wurde auch so bis zum Millennium regiert. Die AKP änderte diese Situation tatsächlich radikal. Wurde noch 1999 eine Abgeordnete, die zum ersten Mal in der Geschichte im türkischen Parlament mit Kopftuch erschien, ausgebuht und des Saals verwiesen, waren 2013 gleich vier weibliche Abgeordnete mit Kopftuch vertreten, woran niemand mehr Anstoß nahm.

Die Beteiligung von Frauen an der Politik ist in der Türkei nichts Neues. Das Frauenwahlrecht existiert bereits seit 1934 und damit zehn Jahre länger als in Frankreich. Von 1993 bis 1996 war der Chefposten in der Regierung mit Tansu Ciller erstmals von einer Frau besetzt, die eingangs erwähnte Meral Aksener war von 1996 bis 1997 Innenministerin.

Die Wählerinnen werden auch ein entscheidendes Wort mitreden, ob bei den Wahlen die Opposition eine Regierungschance erhält oder sich die Türkei unter Erdogan weiter islamisiert und möglicherweise auf eine Diktatur zusteuert.

So bestimmen die Wählerinnen und Wähler bei den kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nicht nur über ein neues Führungspersonal. Es werden entscheidende Weichen gestellt, in welche Richtung das Land am Bosporus in den nächsten Jahren gehen wird.

Und ob es bei der Hundertjahrfeier der modernen Türkei im Oktober dieses Jahres eine Gedenkfeier gibt, wo der Geist des Staatengründers Atatürk wieder zu einem aktiven Pfeiler der Gesellschaft wird – oder dieser in einer religiös bestimmten Gesellschaft zur reinen Museumsware mutiert.

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