"100 Prozent Erneuerbare Energien bis allerspätestens 2030"

2045 ist zu spät für das 1,5 bis 2 Grad-Ziel. Deutschland muss 2030 dekarbonisiert sein. Studien zeigen, dass das möglich ist. Dazu ist ein rasanter Ausbau der Erneuerbaren notwendig. Bild: SfV

Experte Rüdiger Haude sagt: Wind und Sonne sollten russisches Gas ersetzen. Das reformierte EEG ist ein erster Schritt, aber die Ziele sind zu niedrig. Deutschland kann bis 2030 auf 100 Prozent Ökostrom umstellen.

Im Interview mit David Goeßmann von Telepolis erklärt Rüdiger Haude, dass wir russische Energieimporte durch Erneuerbare ersetzen können. Studien zeigen uns zudem, dass Deutschland bis 2030 komplett dekarbonisiert sein kann, aber weiter Lobbys wie auch viele Medien die Energiewende abbremsen. Das neue EEG (Erneuerbare Energien Gesetz), das gerade vom Bundestag verabschiedet wurde, ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber das darin ausgegebene Ziel, 2045 klimaneutral zu werden, ist nicht mit dem Treibhausgas-Budget Deutschlands nach dem Pariser Klimavertrag kompatibel.

Rüdiger Haude ist Soziologe und zuständig für Öffentlichkeitsarbeit beim Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V. (SFV)

Die Bundesregierung versucht im Moment, die ausfallenden russischen Energieimporte durch andere fossile Quellen, zum Beispiel Erdgas aus Katar oder Fracking-Gas aus den USA, zu kompensieren. Es sollen auch neue LNG-Terminals als Speicher gebaut werden – obwohl das gar nicht die aktuelle Gas-Krise lösen kann, da der Bau erst in Jahren fertiggestellt sein wird. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat zudem auf dem G-7-Gipfel für neue Gasinvestitionen geworben (um das ausfallende russische Gas zu kompensieren) und sie auch durchgesetzt. Wie beurteilen Sie die Energiepläne der Regierung vor dem Hintergrund der eskalierenden Klimakrise?

Rüdiger Haude: Wir halten das für verheerend. Man muss natürlich anerkennen, dass die Bundesregierung durch den Ukraine-Krieg wegen Deutschlands Energieabhängigkeit von Russland in eine schwierige Lage geraten ist. Aber wenn für LNG-Terminals in wenigen Tagen alle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden können – warum geht das dann nicht für Windkraftanlagen, die nicht erst in fünf Jahren, sondern in wenigen Monaten Strom liefern können? Über das neue EEG wurde monatelang debattiert, bevor es am 7. Juli vom Bundestag beschlossen wurde. Und es ist deutlich zu zaghaft.

Seit einigen Tagen liegt eine Studie des "Zero Emission Think Tank" vor. Ein internationales Autor:innenteam zeigt darin, dass Deutschland durch eine Ausbauoffensive bei den Erneuerbaren sowie durch Sparmaßnahmen (wie z.B. Tempolimits) bereits im kommenden Winter komplett auf russisches Erdgas verzichten und gleichzeitig unsere Treibhausgas-Emissionen drastisch senken kann. Solche Konzepte sollte die Bundesregierung aufgreifen – statt mitten in der Klimakatastrophe in neue fossile Erzeugungsanlagen zu investieren, die notwendigerweise zu "stranded assets" (gestrandeten Anlagewerten, Telepolis) werden. Sie sollte auf den UN-Generalsekretär António Guterres hören, der bei der Vorstellung des neuesten Sachstandsberichts des Weltklimarats am 4. April dieses Jahres zu fossilen Investments sagte, sie seien "moralischer und wirtschaftlicher Wahnsinn":

Solche Investitionen werden schon bald verlorene Vermögenswerte sein – ein Schandfleck in der Landschaft und ein Makel in den Anlageportfolios.

Guterres sagte außerdem, dass die leeren Klimaversprechen der Regierungen uns "auf den Weg in eine unbewohnbare Welt bringen". Eine unbewohnbare Welt! Wir sollten das sehr ernst nehmen. So schrecklich der Ukraine-Krieg ist: Die Klimakatastrophe ist das bei weitem größere Problem, vor dem unser Planet und damit auch unser Land steht!

Noch vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs hat Wirtschaft- und Klimaschutzminister Robert Habeck seinen Energieplan vorgestellt. Es ist nun in überarbeiteter Form vom Bundestag verabschiedet worden. Sie haben das sogenannte "Osterpaket", ein Entwurf zu einem ersten großen Gesetzespaket für Klimaschutz, als zu schwach und ungenügend für den Klimaschutz kritisiert. Was kritisieren Sie konkret?

Rüdiger Haude: Wir haben eine Reihe von Kritikpunkten formuliert und auch dem Klimaschutzministerium und den Mitgliedern des zuständigen Bundestags-Ausschusses zugeschickt. Wichtige Forderungen darin betreffen den Abbau bürokratischer Hürden, die seit zehn Jahren ins EEG geschrieben wurden, um den Erneuerbaren-Ausbau zu bremsen.

Wir fordern ferner die Abschaffung aller Ausbaudeckel, wie sie etwa noch durch Festhalten am Ausschreibungsprinzip für Windparks und größere PV-Anlagen bestehen bleiben. Wir wollen, dass die Einspeisevergütung für Erneuerbaren Strom auf ein Maß angehoben wird, bei dem sich die Investition in solche Anlagen wieder lohnt. Wir schlagen Erleichterungen beim Mieterstrom vor, und vieles mehr.

Die wichtigste Forderung ist, dass die Bundesregierung nicht nur behauptet, auf einem 1,5-Grad-Celsius-Pfad der Erderwärmung zu sein, sondern auch ein entsprechendes Tempo vorlegt. Mit dem Ziel Klimaneutralität im Jahr 2045 will die Regierung zweieinhalbmal so viel Emissionen zulassen, wie sich aus dem aktuellen Sachstandsbericht des Weltklimarats als "Budget" für Deutschland ergeben. Damit missachtet die Regierung übrigens auch das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr 2021, worin die Bundesregierung ausdrücklich auf Emissions-"Budgets" des Weltklimarats festgelegt wurde.

Das nun verabschiedete Gesetzespaket hat nicht viel von unseren Forderungen umgesetzt. Einzelne Fortschritte wollen wir würdigen: Die Regeln bei Netzanschlussbegehren sind für die Anlagenbetreiber:innen verbessert worden. Auch sind die Vergütungssätze gegenüber dem alten EEG spürbar angehoben worden. Spürbar – aber dennoch nicht ausreichend. Ferner sind die im Referentenentwurf enthaltenen absurden Einschränkungen für Bürgerenergiegesellschaften deutlich entschärft worden (z.B. wurde der Zeitabstand zwischen zwei Windpark-Projekten für solche Gesellschaften von fünf auf drei Jahre zurückgenommen).

Im Ganzen bleibt es dabei, dass das jetzige EEG einen beachtlichen Fortschritt gegenüber seinem Vorgänger darstellt. Doch an den unzureichenden Ausbaupfaden des Regierungsentwurfs hat sich nichts geändert. Es wurde jetzt sogar das Ziel herausgestrichen, Deutschland wenigstens im Stromsektor bis 2035 treibhausgasneutral zu machen – ein klarer Rückschritt!

Auf der anderen Seite steht nun in einer Zusatzentschließung des Bundestages zum neuen "Ersatzkraftwerke-Bereithaltungs-Gesetz":

Der Deutsche Bundestag befürwortet zudem den Erhalt des Dorfes Lützerath am Tagebau Garzweiler und den Verzicht auf die Nutzung der Braunkohle unter dem Dorf.

Das ist ein großer Erfolg der Klimagerechtigkeitsbewegung! Insgesamt haben wir also am 7. Juli im Bundestag viel Licht und viel Schatten gesehen!

Wer sind, politisch wie ökonomisch, die größten Bremser für die notwendige Klimawende? Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die Medien dabei?

Rüdiger Haude: Es gibt traditionell eine problematische Verflechtung zwischen dem politischen System und den Konzernen der Automobilindustrie sowie der fossilen Energiewirtschaft. Diese Industriesparten haben ein starkes Interesse daran, ihre Fossilkraftwerke oder Produktionsstraßen für Verbrenner-Fahrzeuge möglichst lange weiterbetreiben zu können, um ihre Gewinne zu maximieren. Überhaupt haben industrielle Interessen durch intensive Lobbyarbeit einen großen Einfluss auf politische Entscheidungen.

Durch ihre Macht als Anzeigenkunden beeinflussen sie auch die Medien; aber nach meiner Einschätzung ist das Privatmediensystem schon aus immanenten Gründen überwiegend konservativ und wirtschaftsliberal ausgerichtet. Da gerät die Klimarettung bei der Prioritätensetzung schnell auf einen der hinteren Ränge. Na ja, und die Medien üben ihren Einfluss auf das politische Wahlverhalten der Menschen aus.

Wir dürfen übrigens auch die europäische Ebene nicht außer Acht lassen. Gerade hat das EU-Parlament den absurden Beschluss gefasst, dass Atomkraft und Erdgas "nachhaltige" Energieträger seien. Das ist eine offene Verhöhnung des Gedankens der Nachhaltigkeit, und es wird in großem Stile Investitionsmittel von den wirklich nachhaltigen Energien – von Sonne und Wind – abziehen.

Was sind ihre politischen Forderungen gegenüber der Bundesregierung? Und: Was muss sich konkret ändern in Hinsicht Energiewende und Klimaschutz?

Rüdiger Haude: Vereinbar mit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 und mit dem Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind nur 100 Prozent Erneuerbare Energien bis allerspätestens 2030. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie dieses – zugegebenermaßen äußerst ehrgeizige – Ziel ernsthaft ansteuert und insofern auch das jetzige Gesetzespaket deutlich nachschärft.

Die geopolitische Entwicklung seit Putins Überfall auf die Ukraine, die ja z.B. im Bereich der militärischen Aufrüstung spontan drastische Schritte hervorgerufen hat, rechtfertigt hier noch viel eher radikale Maßnahmen. Aber bereits vorher wussten wir alle, dass die Welt sich in einem Klimanotstand befindet. Wir fordern, dass aus der Einsicht in diesen Notstand auch Notstandsmaßnahmen abgeleitet werden. Diesmal müssen nicht bürgerliche Grundfreiheiten eingeschränkt werden, wohl aber die unbeschränkte Verfügungsfreiheit über ökonomisches Eigentum. Und natürlich: das Recht auf Rasen – aber Tempolimits wären ja auch ohne Klimanotstand längst geboten.

Wir haben 2019 große Klimastreiks und Proteste gesehen. Die Klimakrise betrat die große politische Bühne. Heute ist davon nicht mehr viel übrig geblieben. Woran liegt das Ihrer Ansicht nach, und was müsste sich ändern, um die Krise wieder auf die Tagesordnung zu bringen?

Rüdiger Haude: Die Krise ist ja auf der Tagesordnung! Aber dort rutschte sie seit 2020 zuerst hinter die Corona-Pandemie, und seit diesem Februar außerdem hinter den Krieg in Europa. Die Pandemie hat 2020 auch die Möglichkeiten gemeinsamen Protests stark beeinträchtigt.

Die Proteste sind trotzdem nicht verschwunden – denken Sie an die Blockade-Aktionen der "letzten Generation", oder an den anhaltenden Widerstand gegen den rheinischen Braunkohle-Tagebau, vor allem im bedrohten Dorf Lützerath, zu dessen Verteidigung in diesem Herbst sich mehr als 8000 Menschen persönlich bekannt haben. Mit der erwähnten Bundestagsentschließung sind die Chancen für diesen symbolträchtigen (und übrigens bezaubernden) Ort nun hoffentlich deutlich gestiegen.

Nur wird über die Klimaproteste heute wenig berichtet, weil eben andere Themen im Vordergrund stehen. Vielleicht müssen wir stärker auf die Zusammenhänge zwischen allen drei Krisen hinweisen. Vor allem, dass unsere Energieversorgungskrise darauf beruht, dass die früheren Bundesregierungen auf russische Fossilimporte setzten, statt die Erneuerbaren mutig auszubauen, liegt ja nun offen zutage.