20 Jahre nach dem GAU

Tschernobyl und kein Ende abzusehen: Heftige Debatten um Zahlen und Fakten

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Die Umweltschutzorganisation Greenpeace hat eine Studie vorgelegt und behauptet, dass die Konsequenzen der Katastrophe von Tschernobyl bisher vertuscht und heruntergespielt worden sind. Und im Wissenschaftsmagazin Nature fordern Forscher eine umfassende und langfristige Strategie für das Monitoring der Folgen des nuklearen Unfalls. Sie stellen fest, es sei zu früh für eine endgültige Diagnose und schlagen vor, sich am Ansatz der koordinierten und breit angelegten Untersuchung der Folgen der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki zu orientierten.

Am 26. April 1986 sollte im Kernkraftwerk Tschernobyl in der nördlichen Ukraine eigentlich nur eine Sicherheitsüberprüfung stattfinden. Aber alles ging schief, eine Kette von Pannen und unvorhergesehenen Ereignissen führte dazu, dass das Kühlmittel verdampfte und als Folge davon der Reaktor explodierte. Eine große Menge Radioaktivität wurde frei und verteilte sich großflächig. Auch in Deutschland regnete es radioaktiven Fallout vom Himmel. Das war der GAU, der größte anzunehmende Unfall, vor dem die Atomkraftgegner immer gewarnt hatten. Im Fall von Tschernobyl war sehr schnell sogar von einem Super-GAU die Rede.

Juni/Juli 2005: Zwillingsbrüder Michail und Wladimir Lariga (16). Michail kam mit einem Wasserkopf und Wladimir taub zur Welt. Vater und Mutter arbeiteten nach der Katastrophe von Tschernobyl in den am stärksten verstrahlten Gebieten. (Bild: Robert Knoth / Greenpeace)

20 Jahre, ungefähr 3.000 wissenschaftliche Artikel zu dem Thema und viele Konferenzen später führt der schwerste Unfall in der Geschichte der zivilen Nutzung der Kernenergie immer noch zu heftigen Debatten. Besonders umstritten ist das Ausmaß der gesundheitsschädlichen Konsequenzen.

Die damalige Sowjetunion vertuschte direkt nach der Explosion nach Kräften und versuchte die Katastrophe noch zu verharmlosen, als bereits in mehreren skandinavischen Ländern die Messstationen für Radioaktivität Alarm schlugen. Die Regierung im Kreml schickte bis 1987 ca. 350.000 Helfer, so genannte Liquidatoren – meist Soldaten, Polizisten und Feuerwehrleute – die ohne ausreichende Informationen und Schutzkleidung die Evakuierung der Bevölkerung und die Sicherung des Reaktorblocks durchführten (Kalenderblatt: 26.4.1986: Tschernobyl und 10 Jahre nach dem Reaktorunfall Tschernobyl). Der Jahrestag des GAUs von Tschernobyl zwei Jahrzehnte später sorgt wieder für viel mediale Aufmerksamkeit (Die Todeswolke, die ganz Europa verseuchte) und heizt die öffentlichen Diskussionen erneut an.

Offizielle Zahlen und Fakten

Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) die Kurzfassung einer Studie, die von verschiedenen Stellen der UNO, speziell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Auftrag gegeben wurde. Die IAEO (In Focus: Chernobyl) und die WHO (World Health Organization report explains the health impacts of the world's worst-ever civil nuclear accident und WHO report) kommen zu dem Schluss, das insgesamt 4.000 Menschen aus den Gruppen der 240.000 der höchsten Strahlenbelastung ausgesetzten Liquidatoren, sowie der 116.000 Evakuierten und der 270.000 Einwohner der Region mit einer Cäsium-Kontamination von mehr als 555 kBq/m2 (Health effects of the Chernobyl accident: an overview) als Folge der erhöhten Strahlenbelastung an Krebs sterben werden. Dazu kommen nach Meinung der WHO-Experten möglicherweise noch 5.000 Krebstote aus den weniger stark belasteten Gebieten Weißrusslands, Russlands und der Ukraine – wobei diese Schätzung viele Unsicherheiten enthalte. Allein die Nennung dieser klaren Zahlen rief viele Kritiker auf den Plan.

Leugnen und verleugnen

Jetzt legt Greenpeace nach. Die Umweltschutzorganisation legte am 18. April eine eigene Studie vor und klagt offen an:

Der Super-Gau von Tschernobyl hat Millionen Leben zerstört. Durch Tod, Siechtum, Krankheiten unterschiedlichster Art, Missbildungen. (…) Viele der Opfer sind noch nicht einmal geboren. Seit 20 Jahren wird das Ausmaß der Katastrophe vertuscht und heruntergespielt. (…) Zum tragischen Schicksal der Tschernobyl-Opfer gehört, dass es sie nicht geben dürfte. Sie passen nicht ins Konzept. Sie passten vor 20 Jahren nicht ins Konzept der damaligen Weltmacht Sowjetunion, sie passen bis heute nicht ins Konzept der internationalen Atomlobby. Das ist die zweite Tragödie in ihrem Leben.

Die Greenpeace-Experten kommen zu dem Schluss, dass allein in Weißrussland, Ukraine und Russland als Folge von Tschernobyl 270.000 Menschen zusätzlich an Krebs erkranken werden, wahrscheinlich werden 93.000 davon sterben. Dazu kommen erhöhte Zahlen bei Infektionen, Herz- und Gefäßkrankheiten, Bluterkrankungen, Unfruchtbarkeit und vorzeitiger biologischer Alterung – sowie Fehlgeburten, Missbildungen und Erbgutschäden (Gesundheitsreport Tschernobyl. Deutsche Kurzfassung und Der Tschernobyl-Gesundheitsreport - Langfassung in Englisch).

Greenpeace wirft der IAEO (und damit auch der WHO) in aller Deutlichkeit vor, den schlimmsten Unfall in der Geschichte der Kernkraft bewusst zu verharmlosen, um der Atomindustrie mit ihren weltweit 440 Kernkraftwerken genehmere Zahlen zu verschaffen. Thomas Breuer, Atomexperte von Greenpeace erklärt dazu:

Keiner kann sicher sagen, wie viele Menschen an den Folgen von Tschernobyl sterben werden. Dazu sind die Auswirkungen der Radioaktivität zu vielfältig und ist die Datenlage zu ungenügend. Doch wer von 4.000 Opfern spricht, leugnet die Schwere dieses Unglücks und ignoriert das Leid unzähliger Menschen. Selbst die IAEO geht in ihren Schätzungen von mehr Todesopfern aus, als sie öffentlich erklärt. Man muss nur das Kleingedruckte in ihrer Studie lesen.

Noch keine finale Diagnose möglich

In Nature fordern Dillwyn Williams von den Strangeways Research Laboratories im britischen Cambridge und Keith Baverstock von der finnischen University of Kuopio einen systematischeren Forschungsansatz als bisher. Sie stellen klar, dass 20 Jahre nach der Reaktorexplosion noch völlig unabsehbar ist, was genau diese nukleare Katastrophe für die Gesundheit der Menschen bedeutet, bzw. noch bedeuten wird.

Die Strahlenbelastung durch den Rektorunfall war sehr verschieden von der durch die Atombomben in Japan, aber dennoch könnte das Monitoring der Folgen von Nagasaki und Hiroshima (Manche Japaner sprachen von der "christlichen Bombe" und Die US-Legende über Hiroshima und Nagasaki) als Vorbild dienen. Die Koordination der Forschung der früheren japanischen Atomic Bomb Casualty Commission (heute Radiation Effects Research Foundation), für deren Studien rund 80.000 Überlebende dauerhaft beobachtet wurden, könnte als Modell dienen, um künftig alle Untertreibungen und Übertreibungen in der wissenschaftlichen (und öffentlichen) Diskussion um die gesundheitlichen Konsequenzen von Tschernobyl zu vermeiden.

Williams und Baverstock kritisieren den Report von IAEO und WHO, zumal die große Zahl der Europäer, die geringe Strahlendosen abbekamen, außerhalb der drei am meisten betroffenen Länder völlig ignoriert wird. Bisher ist das Strahlendosis-Reaktions-Verhältnis noch nicht völlig abgeklärt, es könnte linear sein – oder vielleicht auch nicht.

Vergleich mit den Folgen der Atombomben

Die Studien der Atomic Bomb Casualty Commission zeigten, dass es bis 1965 erheblich mehr Fälle von zwei Krebsformen, nämlich Schilddrüsenkrebs und Leukämie gab, aber in der nächsten Dekade trat eine gehäufte Anzahl anderer Krebsarten auf. Fast 45 Jahre nach den Atombombenabwürfen erhöhten sich unerwartet und signifikant noch ganz andere Krankheiten, z.B. Herzerkrankungen. Und fast 50 Jahre nach der Strahlenbelastung traten dann stark vermehrt andere Krebsarten auf, z.B. zeigte sich ein um das Zweifache erhöhtes Risiko von Darm-, Lungen-, Brust-, Eierstock- und Blasentumoren.

Die Strahlenbelastung nach dem GAU von Tschernobyl war keine Ganzkörperbestrahlung wie bei den Atombomben-Überlebenden, sondern bei den meisten Betroffenen außerhalb des direkten Umfeldes des Reaktors eine Aufnahme radioaktiver Isotopen über den Fallout. Was sie auf Dauer bewirken, ist noch weitgehend unerforscht. Eine direkte und unumstrittene Folge sind stark vermehrte Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern, die sehr schnell und mit ungewöhnlich aggressiven Tumoren auftraten. Vor allem bei sehr kleinen Kindern, sprich Babys. Experten spekulieren, dass sie verstärkt das radioaktive Isotop Jod 131 durch lokal produzierte Milch aufgenommen hatten. Inzwischen gibt es verstärkt wieder typische Tumore in der Schilddrüse von Kindern aus den betroffenen Gebieten – aber was das heißt und wie es weitergehen wird, weiß noch niemand.

Vereinzelte und nicht koordinierte Studien werden nach Meinung der beiden Wissenschaftler keinen wirklichen Aufschluss über das Ausmaß der Tschernobyl-Folgen geben. Stattdessen sollten umfassende Untersuchungen mit den hunderttausenden Betroffenen in den am meisten verstrahlten Gebieten in Weißrussland, Russland und der Ukraine durchgeführt werden. Das wird Geld kosten, aber es würde sich lohnen. Die USA und Europa geben mehr als eine Milliarde Dollar aus, um den Sarkophag des Tschernobyl-Reaktors definitiv sicher zu machen (Juschtschenko: Neuer Sarkophag für KKW Tschernobyl ist 2010 fertig), und die Atomstromindustrie gibt jedes Jahr riesige Beträge für Öffentlichkeitskampagnen aus (Kernenergie.net) – ein Teil davon wäre sicher im Bereich Public Health gut angelegt, zumal dass dem öffentlichen Misstrauen den Wind aus den Segeln nehmen könnte.