200 Milliarden Euro für unwirksame Maßnahmen?
Die deutsche Familienpolitik steht wieder einmal im Zentrum kontroverser Auseinandersetzungen. Eine neue Studie zum Thema Kinderbetreuung lässt ahnen, wo das Problem liegt
Das Kindergeld: "wenig effektiv", das Ehegattensplitting: "ziemlich unwirksam", die beitragsfreie Mitversicherung des Ehepartners in der gesetzlichen Krankenversicherung: "besonders unwirksam".
Die ersten Ergebnisse der "Gesamtevaluation aller ehe- und familienpolitischen Leistungen", die am Wochenende durchgesickert sein sollen, vom Familienministerium aber umgehend zu "Beiträgen einer wissenschaftlichen Tagung" heruntergeschraubt wurden, lassen kaum ein gutes Haar an der deutschen Familienpolitik. Aus diesem Grund darf man wohl nicht mehr ernsthaft damit rechnen, dass die vollständigen Ergebnisse noch vor der Bundestagswahl veröffentlicht werden.
Das ist allerdings auch nicht nötig. Um zu erkennen, dass ein beträchtlicher Teil der rund 150 familienpolitischen Leistungen, die ein Gesamtvolumen von 200 Milliarden Euro umfassen, mehr schlecht als recht funktioniert, braucht man keine Regierungsstudie. Und auch keine "Beiträge einer wissenschaftlichen Tagung".
Ein Flop für die Alten
"Die Familienpflegezeit eröffnet der Sozialpolitik in Deutschland eine neue Dimension", meinte Familienministerin Kristina Schröder vor ziemlich genau einem Jahr. Damals rührte die glücklose Diplom-Soziologin die Werbetrommel für eins ihrer Prestigeprojekte, die sogenannte "Familienpflegezeit".
Schon die Idee klang so, als ob sie nicht funktionieren könnte. Denn Schröder schlug den Angehörigen der 2,4 Millionen Menschen, die in Deutschland pflegebedürftig sind, vor, ihre Arbeitszeit auf bis zu 15 Stunden zu reduzieren. Deren Arbeitgeber sollten dann für maximal zwei Jahre trotzdem 75 Prozent des letzten Bruttoeinkommens zahlen. Nach Wiederaufnahme der Berufstätigkeit würde das Gehalt bei 75 Prozent verbleiben, bis die familiären Aushilfspflegekräfte ihren Vorschuss abgearbeitet hätten.
Mit Blick auf die guten Kontakte ihres Hauses zu diversen Großkonzernen, die sich für die "Familienpflegezeit" begeistern konnten, auf der Homepage des Ministeriums namentlich genannt und in Berlin empfangen wurden, sprach Schröder von 300.000 Beschäftigten, welche das Angebot ab sofort nutzen könnten.
Knapp 12 Monate später ließ das Ministerium wissen, dass nur rund 200 Personen von der Offerte Gebrauch gemacht hatten. Schade eigentlich und so gar nicht im Sinne eines Konzepts, das nach Einschätzung der Ministerin "den Nerv der meisten Menschen" treffen sollte. Und doch auch wieder kein Problem für die rhetorisch gewandte Presseabteilung des Hauses. "Solche großen gesellschaftlichen Vorhaben brauchen eine Anlaufzeit", gab ein Ministeriumssprecher zu Protokoll.
Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbandes VdK Deutschland, zeigte sich in der vergangenen Woche wenig überrascht von dem desaströsen Zwischenergebnis:
Gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht. Der wesentliche Konstruktionsfehler im Gesetz liegt darin, dass es keinen Rechtsanspruch formuliert. (...) Es ist außerdem sehr realitätsfremd, davon auszugehen, dass Arbeitnehmer problemlos über vier Jahre auf 25 Prozent ihres Gehalts verzichten können. Die Familienpflegezeit wird so zum Privileg für Besserverdienende. Hinzu kommt, dass die häusliche Pflege hierzulande zum allergrößten Teil von Frauen geleistet wird. Und weibliche Arbeitskräfte verdienen durchschnittlich ohnehin 23 Prozent weniger als Männer. Weitere Einkommenseinbußen können sich viele schlicht nicht leisten.
Ulrike Mascher
Ein Flop für die Jungen
Konstruktionsfehler, halbherzige Planungen und bestenfalls aktionistische Zukunftsstrategien kennzeichnen auch zahlreiche politische Weichenstellungen für die noch gar nicht geschäftsfähigen Bundesbürger.
Der Betreuungsinfrastruktur für Kinder unter drei Jahren hat Eric Seils vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung eine umfangreiche Studie gewidmet, die im Super-Wahljahr dem Vorwurf der Parteilichkeit nicht nur dadurch entgeht, dass sie 18 westeuropäische Länder zum Vergleich heranzieht. Seils beleuchtet die Entwicklung der deutschen Familienpolitik in der Langezeitperspektive und legt so Versäumnisse von Schwarz-Gelb, aber auch gravierende Fehler der Vorgängerregierungen offen.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Kinderförderungsgesetz von 2008, wonach ab August 2013 alle Kleinkinder, die mindestens ein Jahr alt sind, einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz haben. Um den aktuellen Bedarf zu decken, müsste eine Betreuungsquote von knapp 40 Prozent erreicht werden. Die jüngsten Daten, der Blick in die Kassen von Ländern und Kommunen und die Anzahl der ausgebildeten und einsatzfähigen Erzieherinnen und Erzieher lassen viele Beobachter daran zweifeln, dass die Zielmarke in diesem Sommer erreicht wird. Eine Klagewelle könnte die Folge sein.
Eric Seils zeigt durch den Vergleich von 18 westeuropäischen Ländern auf der Basis der Europäischen Datenbank Eurostat, dass Deutschland in Sachen außerhäuslicher Betreuung für Kinder unter drei Jahren nur von Österreich und Griechenland unterboten wird. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass die Betreuung durch Tagesmütter, Großeltern etc. von dieser Statistik nicht erfasst wird und der Anteil der Kinder, die mehr als 30 Stunden pro Woche eine außerhäusliche Einrichtung besuchen, über dem Durchschnitt der 18 Länder liegt.
Es gibt also auch positive Tendenzen, doch die gegenwärtige Situation ist möglicherweise ohnehin nur ein Teil des Problems.
Selbst wenn es gelingen sollte, die Betreuungsgarantie umzusetzen, dann wird das nur der Auftakt zu einem ständigen Wettrennen zwischen Angebot und Nachfrage sein.
Eric Seils
Das liegt nach Seils Einschätzung an dem bemerkenswerten Umstand, dass ein steigendes Angebot an außerhäuslichen Betreuungsplätzen eine steigende Nachfrage zur Folge hat. Er glaubt, dass hier sowohl normative als auch praktische Zwänge eine Rolle spielen.
Wenn immer mehr Eltern ganztags arbeiten und ihre Kinder betreuen lassen, verändern sich soziale Normen. Die Akzeptanz von Kitas und Tagesmüttern wächst weiter und es gilt zunehmend als normal, dass sowohl Väter als auch Mütter voll am Erwerbsleben teilnehmen. Hinzu kommen ganz praktische Faktoren. So berichten Wissenschaftler aus Dänemark, dass Kinder, die zu Hause betreut werden, immer weniger Spielkameraden finden, weil die meisten Gleichaltrigen in der Kita sind.
Eric Seils
Die Studie interpretiert die steigende Nachfrage als "fortschreitenden Prozess der Auslagerung familiärer Wohlfahrtsproduktion in die Geldwirtschaft" und beziffert die bedarfsdeckende Betreuungsquote in Deutschland perspektivisch auf mehr als 60 Prozent.
Zu spät reagiert
Dass viele europäische Länder im Bereich der Kinderbetreuung deutlich besser abschneiden als Deutschland, liegt nicht etwa daran, dass in Norwegen, den Niederlanden, Schweden oder Dänemark mehr Geld zur Verfügung steht, oder daran, dass hier grundsätzlich die besseren Konzepte entwickelt und umgesetzt werden. Seils Blick auf die Situation bei den Nachbarn zeigt schlicht, dass die Weichen deutlich früher in eine andere Richtung gestellt und die Probleme konzentrierter angegangen wurden.
Als Deutschland den Rechtsanspruch verabschiedete und eine öffentlich subventionierte Kinderbetreuung in Angriff nahm, hatten andere Ländern einen Großteil ihrer Hausaufgaben bereits erledigt.
Die aktuelle Negativbilanz bietet Rot-Grün also wenig Grund über die Fehlgriffe der schwarz-gelben Regierung oder "vier verlorene Jahre" zu lamentieren. Denn zwischen 1998 und 2005 war der Ausbau der außerhäuslichen Betreuung nicht gerade ein Vorzeigeprojekt. 2003 besuchten nur sieben Prozent der Kinder unter drei Jahren eine entsprechende Einrichtung.
Seils klassifiziert die deutschen Schwierigkeiten freundlicherweise als "Folge eines zu ehrgeizigen Zeitplans." De facto sind sie – wie so viele Fehlentwicklungen der Familienpolitik - wohl eher das Ergebnis jahre- und jahrzehntelanger Versäumnisse.
Die Länder, die heute deutlich weiter sind als wir, haben etwa zwei Jahrzehnte gebraucht, um eine leistungsfähige Betreuungsinfrastruktur aufzubauen. Das holt man nicht innerhalb weniger Jahre auf.
Eric Seils
Familienpolitik als Wahlkampfthema
Die Familienpolitik dürfte in den bevorstehenden Wahlkampfauseinandersetzungen eine wichtige Rolle spielen. "Mehr qualitativ hochwertige externe Kinderbetreuung verbessert die beruflichen Perspektiven von Frauen, und sie kann sich nach Einschätzung vieler Forscher positiv auf Bildungschancen auswirken", meint WSI-Forscher Eric Seils.
Peer Steinbrück will sich mit solchen Detailanalysen gar nicht erst aufhalten, sondern lieber gleich das große Rad drehen. Vor dem Hintergrund der misslichen Zwischenergebnisse der jüngsten Veröffentlichung erklärte der SPD-Kanzlerkandidat am Montag:
In Zukunft kann es nicht darum gehen, an einzelnen Instrumenten herumzustricken. Wir brauchen eine Umstellung der Familienpolitik.
Peer Steinbrück
Was genau wohin umgestellt werden muss, verriet Steinbrück allerdings nicht. Klar dürfte aber sein, dass ein Wahlsieg von Rot-Grün beispielsweise das Ende des umstrittenen Betreuungsgeldes, eine Reform des Ehegattensplittings und eine Neustrukturierung des Kindergeldes bedeuten würde.
Sogar die FDP hat verstanden, dass es sinnvoll sein könnte, diese Diskussion nicht komplett an sich vorbeilaufen zu lassen. Sibylle Laurischk, die Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, plädierte ebenfalls für eine umfassende Prüfung familienpolitischer Leistungen und regte eine Diskussion über ein "Kinderbasisgeld" an.
Wir müssen erkennen, dass wir mit vielen Leistungen Gutes wollen, aber nicht wirklich erreichen.
Sibylle Laurischk
Die Mandatsträger müssten allerdings auch erkennen, dass es keine separate Familienpolitik gibt. Sie ist auf engste mit den vermeintlichen Wahlkampf-Topthemen Bildung und Arbeitsmarkt verknüpft. Überzeugende familienpolitische Konzepte werden sich also auch mit frühkindlicher Bildung, Teilhabgerechtigkeit, Kündigungsschutz oder den Auswirkungen des deregulierten Arbeitsmarkts beschäftigen müssen.