30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS

Seite 2: Geschichte der ADHS

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Eine historische Überblicksarbeit von einem Team um die Neuropsychologen Lara und Oliver Tucha von der Universität Groningen beginnt bei dem schottischen Arzt Alexander Crichton, der im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert durch Europa reiste. In einer Abhandlung aus dem Jahr 1798 schrieb er über Störungen der Aufmerksamkeit. Gerne wird auch der deutsche Zappelphilipp von Heinrich Hoffmann (1809-1894), also die Figur eines Kinderbuchs, als früher Beleg für ADHS angesehen.

Der Zappelphilipp aus Heinrich Hoffmanns Kinderbuch "Struwwelpeter" von 1844 hörte nicht auf seine Eltern und gilt heute als altes Beispiel der ADHS. Die Quellenlage ist hierfür jedoch reichlich dünn.

Wie die Tuchas und ihre Kolleginnen und Kollegen diskutieren, passen die älteren Beschreibungen aber nicht nahtlos zu den heutigen Kategorien oder ist die Quellenlage schlicht zu dünn. Ein weiteres Beispiel hierfür sind die Fallstudien des britischen Kinderarztes George Frederic Still (1868-1941). Bei diesen liegt der Schwerpunkt auf abweichendem Moralverhalten, auch wenn viele der beschriebenen Kinder Symptome der heutigen ADHS aufwiesen.

Erwachen aus der "Schlafkrankheit"

Nach der Epidemie der Europäischen Schlafkrankheit (Encephalitis lethargica) von etwa 1915 bis 1927 - siehe Oliver Sacks' Buch "Awakenings" oder den darauf beruhenden Film mit Robert De Niro und Robin Williams (deutsch: "Zeit des Erwachens") -, rückten Gehirntheorien in den Vordergrund. Manche Problemkinder zeigten nämlich Verhaltensweisen, die den Symptomen mancher Überlebender der Gehirnentzündung (Encephalitis) ähnelten. Dazu kam, dass der 1937 von dem amerikanischen Psychiater Charles Bradley veröffentlichte Versuch, solche Kinder mit Amphetamin (also "Speed") zu behandeln, vielversprechend war.

So und dank des wenig später entdeckten Methylphenidats (Ritalin® u.a.), das bis heute die Vorzugsdroge zur Behandlung von ADHS ist, setzte sich die Kategorie der MBD durch: Dies stand erst für "Minimal Brain Damage", später in etwas abgemilderter Form und in Reaktion auf Kritik für "Minimal Brain Dysfunction".

Über Drogen und Medikamente

Eine angebrachte Nebenbemerkung zum Wort "Droge": Abgeleitet vom niederländischen droog stand dieses ursprünglich für getrocknete Güter. Trockenkräuter können Sie noch heute in der Drogerie kaufen. Im Niederländischen unterscheidet man, ähnlich wie im Deutschen, inzwischen aber drugs (sprich: drügs) von geneesmiddelen (nicht Genuss-, sondern Genesungsmittel, also Medikamente). Doch diese Unterscheidung ist ein soziales Konstrukt.

Die Verwendung des englischen drug ist besser, da unvoreingenommener. Im Deutschen sollte man eher zwischen medizinischen und nichtmedizinischen Drogen unterscheiden. Irreführend ist der gesetzliche Begriff des Betäubungsmittels, da viele der regulierten Mittel überhaupt nicht betäuben, sondern aufputschen oder Halluzinationen verursachen. Wie dem auch sei, Amphetamin und Methylphenidat sind je nach Sprachgebrauch Drogen, Stimulanzien, Psychopharmaka oder schlicht Medikamente, abhängig davon, für welche Zwecke wir sie gebrauchen.

Vermuteter Gehirnschaden

Kommen wir zurück zur MBD: Interessanterweise gingen Fachleute davon aus, dass Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten nichts Geringeres haben als einen Hirnschaden, wenn auch einen minimalen. Das stellte man aber nicht im Gehirn fest, sondern im - raten Sie es - Verhalten! Den Gehirnschaden dachte man sich dazu. Gefunden hat man ihn nie. Bis heute.

Das ist auch mit Blick auf das in unserer Zeit dominierende molekularbiologische Paradigma der Psychiatrie bedeutend. Dieses versteht ADHS wahlweise als Neurotransmitterstörung ("Botenstoffe" im Gehirn, vor allem Dopamin, Noradrenalin und Serotonin), Störung von Gehirnnetzwerken oder eine Kombination von beidem. Wir werden später darauf zurückkommen.

Geburtsstunde der ADHS

Nachdem die Gehirnstörung ohne auffindbare Gehirnstörung zunehmend in die Kritik geriet, kam man über den Umweg der hyperkinetischen Störung der Kindheit (1968) schließlich auf die Aufmerksamkeitsstörung (ADS) mit oder ohne Hyperaktivität, nämlich in der dritten Auflage des Diagnosehandbuchs DSM der Amerikanischen Psychiatrie von 1980. In deren Überarbeitung von 1987 hieß es dann schließlich: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS.

Es ist hier nicht so wichtig, auf Unterschiede der Überarbeitungen von 1994, 2000 oder 2013 einzugehen. Zwar wird in Deutschland und anderen Ländern statt dem DSM das ICD der Weltgesundheitsorganisation verwendet, das strengere Kriterien anlegt. Doch richtet sich die Forschung wegen des amerikanischen Einflusses vor allem nach dem DSM; und auch der Psychiatrie-Teil der nächsten Auflage des ICD wird wohl stärker an die Kriterien aus Übersee angepasst.

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