30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS

Seite 3: Was ist ADHS eigentlich?

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So oder so - die ADHS ist durch überbordende motorische Aktivität, Impulsivität und mangelnde Aufmerksamkeit charakterisiert. Konkret müssen nach DSM-5, der neuesten Auflage von 2013, mindestens sechs von neun Kriterien für Aufmerksamkeitsprobleme und/oder mindestens sechs von neun für Hyperaktivität und Impulsivität vorliegen. Diese müssen sich in mindestens zwei Umgebungen äußern, etwa zuhause, in der Schule oder bei Freunden, und das Funktionieren einschränken.

Beispiele für die Kriterien sind: häufig keine Aufmerksamkeit für Details zu haben oder Schludrigkeitsfehler zu machen; häufige Schwierigkeiten beim Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit für Aufgaben oder beim Spielen; den Eindruck zu erwecken, man höre nicht zu, wenn man angesprochen wird; häufig mit Händen oder Füßen zu zappeln oder auf dem Sitz herumzurutschen; häufig aufzustehen, wenn man sitzen bleiben muss; häufig herumzurennen oder zu klettern, wenn das unangemessen ist. "Hinweis!", heißt es ergänzend beim letztgenannten Kriterium: Bei Jugendlichen könne schon ein Gefühl der Unruhe ausschlaggebend sein.

Eine Frage des Alters

Von besonderem Interesse ist noch das Kriterium über den Anfang der Symptome. Bis zum DSM-IV-TR von 2000 hieß es, einige der Symptome hätten schon vor dem Alter von sieben Jahren vorliegen müssen. Damit hatte man also gerade noch den Schulanfang abgedeckt. Will heißen: Traten nicht spätestens in den ersten ein bis zwei Schuljahren solche Probleme auf, dann konnte man später keine "echte" ADHS mehr diagnostizieren.

Dies führte zu prozeduralen Schwierigkeiten, da sich in der Forschung immer mehr die Ansicht durchsetzt, die Störung würde bei etwa der Hälfte der Betroffenen auch im Erwachsenenalter fortbestehen. Wenn sich aber erst Erwachsene an eine Ärztin oder einen Psychologen wendeten, wie zuverlässig konnten sie sich noch an ihre frühste Kindheit erinnern?

Ein Forschungsteam - mit freundlicher Unterstützung der Pharmaindustrie (hier konkret: Abbott, Bristol-Myres Squibb, Eli Lilly, Janssen-Cilag, McNeil, Novartis, Pfizer und Shire), die von aufgeweichten Kriterien profitiert - stellte zudem fest, dass sich die mutmaßlichen Patienten im höheren Alter unabhängig vom Anfangszeitpunkt der Symptome in psychologischen Messungen nicht voneinander unterschieden. Dementsprechend empfahlen sie, das Alter von 7 auf 12 anzuheben.

Altersgrenze angehoben

So geschah es dann auch im DSM-5. Fairerweise sollte man ergänzen, dass beide Altersgrenzen willkürlich gezogen waren. Doch so viel ist klar: Je höher das Eingangsalter, desto mehr Menschen kann man potenziell die Diagnose geben. Formal gab und gib es aber sowieso die Möglichkeit, die Störung auch ohne vollständiges Vorliegen der Kriterien festzustellen. Das nennt sich dann "anders spezifizierte" oder "nicht spezifizierte" ADHS.

Dennoch wundert mich, dass man sich überhaupt mit solchen Altersgrenzen abmüht. Vielleicht ist dies der Tatsache geschuldet, dass man ADHS jetzt als "neuronale Entwicklungsstörung" ansieht. Unter dieser Prämisse wäre es komisch, hätte jemand erst mit 25, 30 oder gar 40 die Probleme. Dann ist die Gehirnentwicklung ja bereits abgeschlossen.

Doch kritisch nachgefragt: Wenn jemand solche Probleme mit der Aufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität hat, die das tägliche Funktionieren einschränken, und wenn man dies sowieso als Störung definiert, wie man es 1987 mit ADHS getan hat - wieso spielt dann das Alter der ersten Symptome eine entscheidende Rolle? Sollte man dieses Kriterium nicht konsequenterweise aufgeben? Die Pharmaindustrie würde es freuen, doch darum geht es hier nicht. Dann müsste man für ADHS aber ein anderes Kapitel im DSM finden, weil dann die Idee der Entwicklungsstörung nicht mehr plausibel wäre.

Denken im Schneckentempo

Eine Anekdote am Rande sind die (bisher fehlgeschlagenen) Versuche einiger Forscherinnen und Forscher, eine dritte Variante - also neben Aufmerksamkeitsmangel und Hyperaktivität/Impulsivität - der ADHS anerkennen zu lassen: "Sluggish Cognitive Tempo", zu deutsch vielleicht "gedankliche Trägheit". Diese angebliche Störung hat nicht nur eine sehr ausführliche Wikipedia-Seite in mehreren Sprachen, sondern auch eine Sonderausgabe der "Zeitschrift für Abnormale Kinderpsychologie", die sich ausschließlich damit beschäftigt.

Typische Symptome sind etwa, sich langsam beziehungsweise im Schneckentempo (von engl. slug = Schnecke) zu bewegen, in den leeren Raum zu starren oder in langweiligen Situationen nur mit Mühe aufpassen zu können. Sie dürfen selbst raten, was als Behandlungsmethode empfohlen wird; und wer solche Studien finanzierte.

Da sich bisher nur wenige mit dem Namen der Störung anfreunden konnten, kursiert jetzt der Vorschlag der "Konzentrationsdefizitstörung", kurz KDS. Vielleicht findet sich im DSM-5.1 oder spätestens 6.0 eine Aufmerksamkeits-oder-Konzentrationsdefizit-und/oder-Hyperaktivitäts-(und nicht zu vergessen Impulsivitäts-)-Störung, also AKDHIS. Wer hat die nicht?

Alter bei der Einschulung entscheidend

Noch ein letzter kritischer Punkt zur "echten" ADHS: Man hatte bereits international festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Diagnose mit dem Alter bei der Einschulung zusammenhing. Amelie Wuppermann von der Ludwig-Maximilians-Universität München und Kollegen haben diesen Zusammenhang jetzt auch für Deutschland belegt.

Bei Kindern, die im Monat vor dem Einschulungsstichtag geboren waren, also besonders jung in die Schule kamen, waren ADHS-Diagnosen im Mittel um ca. einen Prozentpunkt höher als bei den Kindern im Monat danach. Für Medikamentenverschreibungen fand man einen ähnlichen Zusammenhang.

Wenn man bedenkt, dass die mittlere Häufigkeit für Jungen und Mädchen zusammen bei ca. 5% liegt, dann ist das ein beachtlicher Unterschied: Das Risiko einer Diagnose ist also um rund 20% erhöht, wenn man minimal einen Tag, maximal zwei Monate älter ist als diejenigen, die erst im nächsten Jahr eingeschult werden.

"ADHS gibt es nicht"

Aus dieser oder der vorherigen Kritik abzuleiten, es gebe keine ADHS, ist müßig. Dennoch sei hier das Fazit von Lydia Furman, Professorin für Kinderheilkunde an den Universitätskliniken in Cleveland, Ohio, zitiert: "ADHD is unlikely to exist as an identifiable disease." Ein Grund dafür sei, dass die Diagnosekriterien nicht den medizinischen Standards entsprächen. Dem fügt sie aber hinzu, dass die Probleme Symptome anderer behandelbarer medizinischer, emotionaler oder psychosozialer Umstände bei Kindern sein könnten.

Wie dem auch sei: Die ADHS ist schon rein formal ein soziales Konstrukt, weil sie eben von Fachleuten am Konferenztisch definiert wird und dabei verschiedenste Interessen mitspielen ("Es gibt keine Depressionen"). Damit ist mitnichten behauptet, dass die Probleme der Betroffenen nur eingebildet seien. Die ADHS-Diagnose und ihre Folgen sind schlicht die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft heutzutage mit diesen Problemen umgeht: Sie versteht sie als medizinische Entität, die mit Methoden der Psychologie oder Psychiatrie behandelt werden kann.

Allumfassende Medizin

Das fällt Fachleuten kaum noch auf, weil sie dazu ausgebildet werden, die Welt so zu sehen. Die offizielle WHO-Definition von Gesundheit - vollständiges körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden - ist so weit gefasst, dass sie alle Bereiche des Lebens einschließt und eigentlich nichts mehr ausschließt.

So verstanden, kann selbst ein Streit mit dem Nachbarn als medizinisches Problem verstanden werden; zweifellos hinterlässt dieser auch Spuren im Gehirn und gibt es für diesen eine genetische Prädisposition, wie für so gut wie alle Aspekte der Persönlichkeit. Sie können sich einen Namen dafür ausdenken. Vielleicht Nachbarschaftsstreitereistörung, NSS?

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