386DX: Die erste Cyberpunk-Band der Welt

Alexeij Shulgin am Weg vom Medienkünstler zur Rock-Ikone.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Abschlussabend der "Wizards of OS"-Konferenz. Im Berliner Club WMF bietet sich ein seltsamer Anblick: Der ehemalige Fotograf und Netzkünstler Alexeij Shulgin steht auf der Bühne; wie eine E-Gitarre umgehängt hat er eine Computertastatur; mit weit ausholenden Armbewegungen streichelt er die Tasten; auf einer Projektionsfläche flimmern "Computeranimationen", die ästhetisch mehr mit frühen Amiga 512- oder gar C64-Sprites zu tun haben als mit heute gewohnten Standards von Club-Visuals; die Club-Lautsprecher geben einen merkwürdigen "Sound" von sich - es sind bekannte Rock-Hits, ob von The Doors, Nirvana oder den Sex Pistols. Doch gespielt werden sie vom eigentlichen Star des Abends, einem PC mit einem 386DX-Chip, getaktet mit 40MHZ.

386 DX live

Shulgins Armbewegungen sind eigentlich bloss optische Unterstützung des Live-Charakters seines Gigs, denn spielen tut der Computer alles völlig von alleine. Was er mit dem Druck auf die Funktionstasten seines Keyboards verändert, sind Parameter der visuellen Begleitung - mal Linien mit Moiré-Effekt (immer wieder gut), dann Kreise, Farbbalken, Flächen, Dreiecke. Den musikalischen Teil erledigt eine Soundblaster-Karte älteren Modells mit einem integriertem Midi-Sequenzer und einem Text-to-speech-Modul, das auch singen kann. Damit kann 386DX guten Gewissens "die erste Cyberpunk-Band" genannt werden. Sicherlich, fast alle Musik wird heute elektronisch/digital produziert und möglicherweise basteln Tausende am eigenen PC mit ähnlichen, von Creative Labs herausgegebenen Tools herum. Doch niemand hat bisher, so wie Shulgin, daraus eine konzeptuelle Cyberpunk-Band gemacht.

Begonnen hat die Geschichte von 386DX vor etwas mehr als einem Jahr. Shulgin war der Netzkunst (eigentlich müsste man sagen "net.art", weil damit präziser eine bestimmte Gruppierung bezeichnet wird) müde. Seiner Meinung nach stellt das Internet nur eine limitierte Anzahl von Möglichkeiten für Künstler zur Verfügung und diese seien von den Net.artists bereits hinlänglich ausgelotet worden. Seither gäbe es laut Shulgin zwar alle paar Monate einen neuen Hype, doch dieser beschränke sich darin, daß unter den Künstlern eine neue Technologie Verbreitung findet. "Im Vorjahr war Netzradio ganz gross", sagte er, "nun ist es Video-Streaming oder Direct Media". Shulgin wollte jedenfalls etwas ganz anderes machen und kam auf die Idee, mit einem Computer als eine Art Strassensänger aufzutreten.

Daher die Notwendigkeit zur Verwendung der billigstmöglichen Technologie. Das Gehäuse des musikalisch begabten DX sieht dann auch wirklich wie das eines abgearbeiteten Ex-Bürocomputers aus: ein leicht ergrautes, schmutziges Hellbeige, Slots für Festplatte und Diskettenlaufwerke, an denen sicherlich schon mehrmals ein- und ausgebaut wurde. Wäre der Computer nur etwas langsamer, könnte er die Aufgabe nicht mehr bewältigen, aber auch so kommt er manchmal aus dem Takt. Das größte Problem war die Synchronisation der Midi-Files mit dem Gesang aus dem Text-to-speech-Modul, es hat viel Fummelarbeit gekostet, bis diese so einigermassen klappte. Doch manchmal laufen auch heute noch bei den Live-Gigs Instrumental- und Gesangspur auseinander. Diese Low-Tech-Haltung verknüpft mit DIY-Anspruch ist für Shulgin eine Botschaft, die er vor allem an die Medienkunst-Community zurückgeben will, die nach immer teurerer Hardware schielt und ohne eingekaufte Profi-Programmierer nicht mehr weit zu kommen scheint. Diese Kritik ist zwar nicht neu, aber jedenfalls ein Punkt, der immer wieder gemacht werden kann, solange die entsprechende Praxis weitverbreitet ist.

Die Existenz der Cyberpunk-Band verdankt sich einem Zufallsfund. Shulgin verfügte über eine etwas mehr als drei Jahre alte Soundblaster-Karte. Unter der mitgelieferten Software befand sich eine Demo für das singende Text-to-speech-Modul, aber kein Helpfile mit Erklärungen zur Verwendung der Parameter. Erst nach längerem Suchen fand Shulgin besagtes Helpfile auf der Web-site von Creative Labs, das zwar nicht mehr verlinkt war, aber durch Herumstöbern hinter den Index-Seiten doch noch aufgerufen werden konnte. Auch alles andere, was zur "Bandgründung" nötig war, fand Shulgin im Internet: Midi-Files bekannter Rock-Klassiker, Noten, Songtexte. Diese Benutzung des Internet als Ressource is durchaus "konzeptuell" im Sinne Shulgins. Für ihn ist es wichtig, dass alles "Sample, Second hand, Zitat ist, von der Hardware bis zur Software".

Bei einem erstem Konzert in seiner Heimatstadt Moskau fehlte noch die visuelle Ebene. Doch Shulgin merkte, dass das reine Abspielen von Songs vom Rechner das Publikum kalt läßt. Deshalb machte er sich erneut auf Internet-Suche und fand ein Stück Shareware, das von Midi-Files beeinflussbare Grafiken erzeugt.

Alexeij Shulgin bei einem Auftritt in Lubljana, Foto Irena Woelle

Um das Rockband-Konzept perfekt zu machen, befindet sich Shulgin nun auf einer ausgedehnten Konzert-Tournee. Er will nicht, daß seine Konzeptband nur innerhalb der Medienkunstszene agiert. So konnte man ihn nach Berlin auch noch in Bristol und anschliessend gleich bei drei Konzerten in London erleben: In einem Internet-Cafe, bei einer Party in der "Foundry" und zuletzt bei der famosen "Articultural Show" an der Southbank vor der Royal Festival Hall. Weitere Konzerte werden folgen, denn dem Konzept einer echten Band nach muss sich 386DX mühsam einen Weg nach oben - zum Rock-Ruhm - erspielen, wie jede andere junge, unbekannte Band. Entsprechend auch die Überlegungen zur Vermarktung: Zwar will die Londoner Institution Artec das Projekt unter die Fittiche nehmen, eine CD soll produziert werden, doch vertrieben werden soll sie von einem "echten" Musik-Label.

Doch da könnte sich ein Problem ergeben - die Musik selbst. Bei Konzerten ist 386DX eine höchst amüsante Angelegenheit. Die Cover-Versionen bekannter Rocksongs erzeugen einen Anflug von Euphorie, die jedoch dadurch gedämpft wird, daß der Klangraum sehr nach integriertem Midi-Sequenzer klingt, was nicht so wahnsinnig "rockt". Live erzeugt das, auch noch verstärkt durch die visuelle Ebene, eine interessante Spannung zwischen Euphorie und Ironie, zwischen fortgezogen werden und sich doch wieder distanzieren. Bei fortschreitendem Abend und eventuell unterstützt durch das eine oder andere alkoholische Getränk kann das zu sehr emotionalen Ergebnissen führen, von Heiterkeit bis zur Melancholie bis zur Ausgelassenheit. Vor allem Liebhaber von Retro-Digitalästhetik werden ausgesprochen entzückt sein. Doch auf der CD in der Heimanlage stellt sich von all dem wenig ein.