40 Jahre Baader-Befreiung und andere Gedenkdaten des Terrors
Das Wirken der RAF war nicht auf 1977 beschränkt, sondern dauerte bis 1999
Bedingt durch die Diskussion um den Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und dessen zwei Begleitern an Gründonnerstag 1977 in Karlsruhe, durch den zum Teil vernichtender Kritik unterworfenen Kinofilm "Der Baader-Meinhof-Komplex" und den in den Medien omnipräsenten "Deutschen Herbst" hat sich innerhalb der - besonders jüngeren - Bevölkerung die Ansicht manifestiert, der deutsche Linksterrorismus hätte nach 1977 zu keinen nennenswerten Ereignissen mehr geführt. Doch tatsächlich bringt das Jahr 2010 zahlreiche Jahrestage zum Thema RAF, deren Ursprünge zum Teil weit nach dem "Deutschen Herbst" zu finden sind.
Der mysteriöse Fall Neusel
Forscher und Journalisten bereiten sich schon jetzt auf den 27. Juli vor. An diesem Tag des Jahres 1990, also vor 20 Jahren, ereignete sich ein bis heute nicht restlos geklärter Anschlag auf den damaligen Innenstaatssekretär Hans Neusel in Bonn. Der CDU-Politiker hatte an jenem Morgen selber das Steuer seines Dienstwagens übernommen, da sich der Fahrer in Urlaub befand. An der Autobahnabfahrt Bonn-Auerberg hatten Unbekannte eine 25 Kilo schwere Bombe platziert, die, ähnlich wie im Fall Herrhausen eineinhalb Jahre zuvor, mittels einer Lichtschranke gezündet wurde. Doch Neusel hatte Glück und erlitt nur leichte Verletzungen, weil die Bombe auf den Beifahrersitz gerichtet war, dem angestammten Platz des Mannes. Angeblich kaum beeindruckt steuerte der Staatssekretär den Wagen anschließend eigenhändig zum Bundesinnenministerium. Einziger Hinweis auf eine Täterschaft der RAF: Ein Bekennerbrief, der allerdings nicht zwingend aus der Feder der Terroristen stammen musste, zumal der Anschlag in den Wirkungszeitraum der sog. 3. Generation der RAF fiel, über deren Existenz auch heute noch heftig diskutiert wird. Während Neusel offiziellen Verlautbarungen nach lediglich durch Glück dem Tod entronnen war, hegen die Autoren des Buches "Das RAF-Phantom" an dieser Darstellung erhebliche Zweifel.
Sie vermuten hinter dem Neusel-Attentat eine perfide eingeleitete Aktion des Staates als Reaktion auf einen Vorstoß der Grünen-Politikerin Antje Vollmer. Diese hatte nämlich kurz vor dem Anschlag einen Gesetzesentwurf in den Bundestag eingebracht, der die Abschaffung des Anti-Terror-Apparates zum Ziel hatte.
Massa-Raub: Rotlichtmilieu oder Rote Armee Fraktion?
Ebenfalls im Jahr 1990, am 5. Juni, ereignete sich ein beinahe alltäglicher Überfall auf einen Supermarkt der "Massa"-Kette in Duisburg. Während die Polizei zunächst von einem völlig "normalen" Raub ausging, tauchte dazu plötzlich ein Bekennerschreiben der RAF auf - und die Sache nahm schnell groteske Züge an. Die rund 300.000 D-Mark (etwa 150.000 Euro) Beute, so die Verfasser, habe man kurzerhand enteignet. Merkwürdig in diesem Zusammenhang: Der Überfall wird völlig ohne Zusammenhang in dem Schreiben genannt, dass sich zuvor ausschließlich mit den Verhaftungen der RAF-Rentner in der ehemaligen DDR beschäftigt. Während das BKA aufgrund des Briefes die Täter in den Reihen der Terroristen ansiedelte, kam die Kripo in Duisburg zu ganz anderen Ergebnissen. Ihren Ermittlungen zufolge wurde der Raub von Angehörigen des Düsseldorfer Rotlicht-Bezirks an der Rethelstraße begangen, die keinerlei Verbindungen zur Terrorszene hatten. Folgerichtig gingen die Verdächtigen erst einmal in U-Haft. Dennoch hielt das BKA an der RAF als Tätergruppe fest. Und so öffneten sich für die Düsseldorfer nach einem Haftprüfungstermin wie von Geisterhand die Gefängnistore. Die angeblichen Räuber aus den Reihen der Rote Armee Fraktion wurden indes bis heute nicht gefunden.
Unfall mit "Carlos"-Spur
Der 25. Juli 1980 präsentierte sich im schwäbischen Bietigheim-Bissingen, wenige Kilometer nördlich von Stuttgart gelegen, als sonnendurchfluteter Sommertag. Auf der dort verlaufenden Kreisstraße 1130 war am frühen Morgen ein roter VW-Golf mit Pariser Kennzeichen unterwegs. Im Fahrzeug: Die RAF-Angehörigen Juliane Plambeck und Wolfgang Beer. Plötzlich tauchte vor ihnen ein beladener Kieslaster auf. Ob der Golf der Terroristen oder der LkW auf die Gegenspur geriet, ließ sich später angeblich nicht mehr klären. Bei dem folgenden Zusammenprall der Fahrzeuge verloren Plambeck und Beer ihr Leben, der LkW-Fahrer kam verletzt davon. Im Zuge der Unfallaufnahme machten die Streifenbeamten beunruhigende Entdeckungen. In dem Golf fanden sich mehrere Schusswaffen, darunter eine Maschinenpistole der Marke HK 93, sowie Papiere mit verschlüsselten Texten. Sofort vermuteten sie einen Zusammenhang mit der RAF und riefen die Spezialisten des BKA. Wie polizeiliche Unterlagen im Hauptstaatsarchiv Stuttgart erst vor kurzer Zeit offenbarten, stammte eine der in dem Wagen gefundenen Patronen aus dem Tatkomplex Buback von 1977 (Kal. 45 ACP Ganzmantel, Rundkopfgeschoss). Der Golf mit dem Kennzeichen 665 BLB 75, so ermittelten die Beamten, gehörte einem gewissen M. de Smet aus Palaiseau in der Nähe von Paris und war gestohlen worden. Waren die Fahnder auf eine RAF-Basis in Frankreich gestoßen, gab es Kooperationen der Anarchisten mit anderen Terrorgruppen? Einen Hinweis darauf lieferte nach dem Fall der Mauer unfreiwillig die Stasi. Sie hatte - ausweislich eines von ihr angefertigten Aktenvermerks - Juliane Plambeck wenige Monate vor dem Unfall in Ost-Berlin am Steuer eines Wagens mit französischem Kennzeichen beobachtet. Auf dem Beifahrersitz hatte kein Geringerer als der damals weltweit meistgesuchte Terrorist "Carlos" Platz genommen. Ihre Fahrt, so die Stasi-Unterlage, führte "Carlos" und Plambeck schließlich weiter nach West-Berlin, worüber die westdeutschen Behörden informiert gewesen seien.
Der Unfall bei Bietigheim-Bissingen kann reiner Zufall gewesen sein, muss er aber nicht.
"Kommando Holger Meins" in Stockholm
Am 24. April 2010 rückt wieder die RAF-Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm von 1975 in den Fokus der Forscher. Damals, vor 35 Jahren, drang ein "Kommando Holger Meins", bestehend aus Lutz Taufer, Karl-Heinz Dellwo, Bernhard Rößner, Hanna Krabbe, Siegfried Hausner und Ulrich Wessel, in die bundesrepublikanische Vertretung ein. Ihr Ziel: Die Freipressung der Stammheimer Gefangenen und weiterer Komplizen. Während der Geiselnahme erschossen die Täter den deutschen Militärattache Andreas von Mirbach. Erst danach zog sich die schwedische Polizei zurück. Um weiter Druck auszuüben, erschossen die Botschaftsbesetzer schließlich auch noch den Wirtschaftsattache Heinz Hillegaart, der zuvor aus einem Fenster der Botschaft vergeblich versucht hatte, Kontakt mit den vor dem Haus postierten Polizisten aufzunehmen.
Dann kam es gegen 23.45 Uhr zu einer verheerenden Explosion, über deren Ursache noch heute spekuliert wird. Die Detonation war nach Angaben von Augenzeugen derart gewaltig, dass das gesamte Gebäude bebte und Wände einstürzten. Innerhalb weniger Sekunden stand eine ganze Etage der Botschaft in Flammen, flüchteten Geiseln und Geiselnehmer gleichermaßen ins Freie. Die offizielle Geschichtsschreibung hält einen Fehler der Terroristen im Umgang mit ihrer im Haus selbstverlegten Sprengladung für die Ursache. Doch kritische Beobachter des Falls glauben an eine misslungene Erstürmung der Botschaft durch die schwedische Polizei.
Baaders Befreiung durch Meinhof
Genau 40 Jahre ist es am 14. Mai 2010 her, dass Andreas Baader, der an diesem Tag des Jahres 1970 als Strafgefangener in das Berliner Otto-Suhr-Institut zwecks Recherchen zu einem angeblichen Buchprojekt über randständige Jugendliche ausgeführt worden war, endgültig zum Bestandteil der jüngeren deutschen Geschichte wurde. Tatsächlich hatten Ulrike Meinhof und weitere Angehörige des bewaffneten Kampfes den Besuch Baaders eingefädelt, um ihn gewaltsam zu befreien. Bei der Aktion, die zwei Schwerverletzte forderte und in einer Schießerei endete, sprangen der Befreite, Meinhof und ihre Mittäter durch ein offenes Fenster in den Hinterhof des Instituts und flüchteten. Dieser "Sprung in die Illegalität" wird seitdem gemeinhin als Geburtsstunde der RAF bezeichnet. Doch rankt sich bis auf den heutigen Tag ein dunkles Geheimnis um die Baader-Befreiung. Dabei handelt es sich um die offiziell unklare Identität jenes Mannes, der mit einer Wollmaske getarnt war und ohne Warnung auf den Instituts-Angestellten Georg Linke (Lebersteckschuss) gefeuert hatte. Seitens der Behörden wurde zunächst Heinz-Jürgen Bäcker, dann Peter Homann beschuldigt. Doch die beiden Männer schieden schließlich als Täter aus. Dann sollte der ominöse Masken-Mann ein Berliner Kleinkrimineller gewesen sein, den man für die Aktion angeheuert habe. Doch auch diese These erwies sich als nicht haltbar. Andere Vermutungen gehen dahin, bei dem Schützen habe es sich um einen V-Mann gehandelt. Immerhin stammten die bei der Aktion eingesetzten Waffen zum Teil von dem mysteriösen "Waffenhändler der APO" Günter Voigt, der seine dunklen Geschäfte in der wenig linksradikal klingenden Berliner Kneipe "Wolfschanze" abwickelte.
Schon wenige Tage nach der Baader-Befreiung war seitens des Staates weder von Voigt noch von dem Maskierten weiter die Rede.
Übrigens: Die "RAF-Führungsetage" der ersten Stunde wäre - wenn sie die Zeit des Terrors denn überlebt hätte - zum 40. Gründungstag der "Guerilla" ganz schön in die Jahre gekommen. Andreas Baader würde eine Woche vor dem 14. Mai 2010 seinen 67. Geburtstag feiern, Gudrun Ensslin freute sich auf den 15. August dieses Jahres, an dem sie 70 würde. Und Ulrike Meinhof wäre sozusagen die Alterspräsidentin des Trios, wenn sie am 7. Oktober 2010 ihren 76. feiern könnte.