70 Jahre BRD - alles andere als friedliche Anfänge
Seite 2: Ein neuer Wind bei der Besatzungsbehörde
- 70 Jahre BRD - alles andere als friedliche Anfänge
- Ein neuer Wind bei der Besatzungsbehörde
- Auf einer Seite lesen
In diesem Sinne reiste der Jurist James Stewart Martin nach Ende der Kampfhandlungen nach Deutschland. Martin hatte zunächst seit 1942 im Justizministerium der US-Regierung amerikanischen Konzernen auf die Finger geschaut, die den Nazis günstig Kriegsgüter verkauften, den US-Streitkräften diese Kriegsgüter jedoch vorenthielten.
Zu Kriegsende wechselt Martin sodann zum Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte SHAEF und soll in Deutschland die Abteilung zur Untersuchung von Kartellen und auswärtigen Guthaben leiten. Mittlerweile ist Präsident Roosevelt gestorben. Seine Gefolgsleute werden gerade in einer Art von kaltem Putsch entsorgt.
Auch bei der Besatzungsbehörde weht jetzt ein anderer Wind. Martins Recherchearbeit wird nach allen Regeln der Kunst behindert. Leiter von Martins Wirtschaftsabteilung war zunächst Graeme K. Howard, zuvor Topmanager bei General Motors, der mit seinem Buch "America and a New World Order" dafür plädierte, dass die USA zukünftig mit Hitlerdeutschland und Japan die Macht auf diesem Planeten teilen sollten. Man müsse Hitler besänftigen, um Frieden zu schaffen.6. Das war denn doch ein bisschen zu starker Tobak. Doch auch Martins nächster Chef war keinen Deut besser.
William Henry Draper jr. hatte längere Zeit die Bank Dillon Read angeführt, die ebenfalls prächtig am US-Nazi-Geschäft verdient hatte. Draper sorgt dafür, dass die Nazi-Unternehmer und -Banker, die laut Potsdam-Beschlüsse hinter Schloss und Riegel gebracht werden sollten, alle wieder frei kamen und in ihre alten Posten zurückkehren konnten.
Von Kartellauflösung war jetzt keine Rede mehr. Das hatte Zeit, dozierte Draper. Jetzt komme es darauf an, die deutsche Wirtschaft schnell wieder auf die Beine zu bringen. Die Schwerindustrie, versteht sich.
Martin macht trotzdem mit seinen getreuen Mitarbeitern weiter. Erste Station: Bankhaus J.H. Stein in Köln. Hier findet er die Akten zum berüchtigten "Sonderkonto S". Ein Mafia-System: Deutsche Industrielle zahlen Schutzgeld an Himmlers SS und bekommen dafür die erbeuteten Filetstücke in den eroberten Ländern zugeteilt. Martins nächste Station: Frankfurt am Main. Die gesamte Kernstadt von Frankfurt ist durch Bomben niedergebrannt. Aseptisch sauber von den Bombern ausgespart: die Zentrale der IG Farben.
Die "Fraternity"
Doch als Martin die Akten im Hause sichten will, kommen ihm Displaced Persons (im Krieg entwurzelte Zwangsarbeiter) entgegen mit Schubkarren voller Aktenordner. Auf Anweisung von Draper verbrennen sie alle hochempfindlichen Beweismittel auf einem großen Scheiterhaufen vor der Tür. Trotz allem kann sich Martin ein Bild über die ausgiebigen Vernetzungen zwischen Wall Street und Nazihierarchie verschaffen, das er uns in einem Buch vermittelt.7
Kurz und schlecht: Die "Fraternity", die Bruderschaft, wie Stewart dieses amerikanisch deutsche Netzwerk von Kartellen und Banken genannt hat, konnte sich in den Nachkriegsjahren nicht nur erneut aufstellen. Es stieg vielmehr zu noch nie gekannter Blüte auf.
Denn Draper und seine Freunde sorgten nicht nur dafür, dass die alten Nazi-Spezis dem deutschen Volk erneut vor die Nase gesetzt wurden. Bei der Vergabe von Unternehmenslizenzen behandelte man die Mitglieder der Fraternity bevorzugt, während unabhängige Unternehmer auf diesem kalten Wege abgeschaltet wurden.
Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich wurde nicht zerschlagen. Sie sorgte ebenfalls dafür, dass das deutsche Übergewicht in diesem Gremium sich auch erneut auf die reale Wirtschaft in Europa niederschlug. Martin hat zudem festgestellt, dass 400 Millionen Dollar Raubgold, das die Nazis sich angeeignet hatten, nach dem Krieg nicht wieder aufgetaucht sind. Er stellt die Frage, ob Nazi-Seilschaften, die sich, mit amerikanischer und vatikanischer Hilfe nach Argentinien oder in Francos Spanien verkrümelt hatten8, womöglich Einfluss auf die Politik in Westdeutschland ausüben könnten …
Die Schwerindustrie musste allerdings jetzt neu organisiert werden. Die symbiotische Beziehung, die lothringisches Erz und die Kohle von der Ruhr im Kaiserreich gepflegt hatten, war nach dem Ersten Weltkrieg abrupt beendet worden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde über die supranationale Montanunion diese Symbiose wieder hergestellt. Die große Völkerversöhnung, von der die Chronisten in diesem Zusammenhang so gerne singen, wurde von den Zeitgenossen bei der Gründung der Montanunion durchaus nicht so harmonisch wahrgenommen.
Westdeutschland als der bevorzugte Kreiselplanet
Die Angst vor einem erneuten deutschen Übergewicht war allgemein sehr groß. Besonders im benachbarten Ausland. Denn die Weltreiche Großbritannien und Frankreich waren als Tiger in den Krieg gesprungen und waren als Bettvorleger gelandet. Beide Staaten standen jetzt bei den Banken der USA tief in der Kreide. Verzweifelt wehrten sie sich gegen ihre neue Rolle als gegenüber den USA nunmehr untergeordnete Mittelmächte, die mit Deutschland zusammen um die neue Supermacht kreisen sollten.
Wobei Westdeutschland der von den USA eindeutig bevorzugte Kreiselplanet war. Für Westdeutschland sprachen die seit Jahrzehnten gut eingespielten transatlantischen Geschäftsnetzwerke. Zudem war Westdeutschland nach den Flächenbombardierungen eine leere Tafel, in die nach amerikanischen Gesichtspunkten neu eingeschrieben werden konnte. Der Marshallplan, an dem Westdeutschland als drittgrößtes Empfängerland saugen durfte, schrieb als Gegenleistung zwingend eine Einführung amerikanischer Governance-Regeln vor.
Die in den Nachbarländern viel und reichlich und zu Recht artikulierte Angst vor neuer deutscher Übermacht meinte eindeutig auch die Potentiale, die sich aus einer neuen deutschen Rolle als mächtiger Subunternehmer der USA ergaben. Diese Machtkonstellation lag Frankreich und Großbritannien "wie ein Alpdruck auf der Seele".9
1947 versuchten diese beiden Ex-Supermächte, aus der US-hegemonialen Zentrifuge herauszukommen durch den Vertrag von Dünkirchen. Dort schworen sie sich gegenseitige Waffenbruderschaft gegen die Teutonen. 1948 wurden im Vertrag von Brüssel noch die Benelux-Länder in diesen Trutzbund einbezogen.
Die USA verlangten nämlich immer lauter, die westeuropäischen Länder müssten ein wiederbewaffnetes Westdeutschland in ihre Reihen aufnehmen. Das wollten die Brüsseler Vertragspartner nun gar nicht. So blieb Westdeutschland bis 1955 außerhalb des neuen Militärbündnisses NATO (Siebzig Jahre NATO: Kein Grund zum Feiern).
Schließlich ein letzter Fluchtversuch aus geostrategischer konzentrischer Abhängigkeit von den USA: Wenn schon die Wiederbewaffnung Westdeutschlands nicht mehr aufzuhalten war, dann sollte die deutsche Armee nicht auf die USA bezogen sein, sondern nur auf eine rein europäische Verteidigungsgemeinschaft. Die aus dem so genannten Pleven-Plan hervorgegangene EVG sollte aber schließlich am Veto des französischen Parlaments scheitern.
Die USA hatten nach der deutschen Kapitulation wohl daran gedacht, die Wehrmacht gar nicht erst aufzulösen, sondern womöglich gleich gen Osten zu schicken. US-General Patton versammelte eine SS-Einheit irgendwo in Süddeutschland, flog mit einem Hubschrauber ein und ließ die SS-Recken auf sein Kommando einschwören, begleitet von einem dreimal herausgebrüllten "Heil Hitler!"10
Mag diese skurrile Episode auch ein Einzelfall gewesen sein, so erstaunt doch im Nachhinein, dass die gefangenen Soldaten der Wehrmacht noch lange Zeit in ihren Verbänden hinter Stacheldraht gefangen gehalten wurden, anstatt sie nach Hause zu schicken. Erst im September 1946, nach geharnischten Protesten der Sowjetunion, wurde die Wehrmacht endlich aufgelöst.
Die deutsche Wiederbewaffnung
Während also in Petersberg ein halbes Jahr nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 das Lied des ewigen Pazifismus angestimmt wurde, liefen die Vorbereitungen zur deutschen Wiederbewaffnung bereits auf Hochtouren. Da konnten die westeuropäischen Nachbarn so viel murren wie sie wollten.
Die Amerikaner traten auf das Gaspedal für die deutsche Wiederbewaffnung im Rahmen eines transatlantischen Bündnissystems. So sagte US-Außenminister Dean Acheson vor den NATO-Mitgliedern 1950 in New York: "Es ist unsere Absicht, die deutsche Macht wiederherzustellen ... um die Verteidigung Europas zu gewährleisten ... Wir wollen diesen Plan so bald wie möglich in Angriff nehmen."
Zwei Jahre später eignet sich Acheson angesichts der Widerborstigkeit der europäischen abhängigen Partner bereits einen erpresserischen Zungenschlag an:
Mitten im bunten, lauten Lissabon standen die Politiker und Militärs des Westens unter der aufreibenden Spannung einer schweren Auseinandersetzung zwischen den USA und ihren europäischen Alliierten. Mit ultimativer Schärfe hatte US-Außenminister Acheson auf der letzten NATO-Vollsitzung in Rom gefordert, daß in Lissabon ein endgültiger Beschluß über die Aufstellung deutscher Militär-Verbände im Rahmen einer internationalen europäischen Verteidigungsgemeinschaft gefaßt(!) wird, andernfalls Amerika auf die Aushebung einer deutschen Nationalarmee dringen werde.
Dean Acheson, US-Außenminister 1952
Bleibt uns nach diesem Parforce-Ritt durch die Geschichte nur lapidar anzumerken: Auch nach siebzig Jahren Bestehen der Bundesrepublik Deutschland ist es noch immer nicht zu spät, endlich eine Kehrtwendung hin zu einer friedliebenden, wirklich weltoffenen Gesellschaftsordnung zu vollziehen.