9/11 für Bangladesch

Nach dem Einsturz der Textilfabrik haben Unternehmen eine Vereinbarung getroffen, die aber an der menschenverachtenden Ausbeutung der Arbeiter nichts ändert

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Wer kennt sie nicht, die Geissens? Die "schrecklich glamouröse Familie", deren Scripted reality-Erlebnisse sehr erfolgreich auf RTL II laufen. Das Millionärs-Ehepaar, mit dem Verkauf ihrer Kleidungsfirma Uncle Sam zu Geld gekommen, erzählte kürzlich in der Talk-Show von Markus Lanz, dass teure Klamotten ihnen gar nicht so wichtig seien. Auf ihren Spritztouren von Monaco nach Italien würden sie mit ihren Kindern gerne in dortige Billig-Modeshops gehen: "Da gibt es dann zehn Teile für 80 Euro!"

Was die Geissens als Ausweis ihrer angeblichen Normalität angeben, verrät in Wirklichkeit wohl eher den Zynismus der normalen Leute, von denen die beiden rheinisch-dämlichen Frohnaturen tatsächlich irgendwie als Self-made-Vorbilder betrachtet werden. Dass sie den verarmten Italienern notwendige Schnäppchen wegkaufen, das kommt den selbstgerechten Wohlstands-Vertretern nicht in den Sinn. Und wohl noch weniger, unter welchen Bedingungen in der Produktionskette diese Kleidungsstücke denn so preiswert hergestellt werden können.

Ende letzten Jahres verbrannten rund 200 Menschen in einer C&A-Fabrik in Bangladesch, Dutzende Todesopfer gab es auch in der pakistanischen Textilindustrie – in westlichen Medien wurde breit darüber berichtet, Katastrophen-Effekt, die Verantwortlichen gelobten Besserung. Am 24. April diesen Jahres nun erlebte Bangladesch sein 9/11: Fast 1.500 Arbeiterinnen und Arbeiter starben beim vorhersehbaren Einsturz einer Fabrik, die für deutsche und westliche Unternehmen wie kik produzierte. Es gab etwa 3.000 Schwerverletzte nach offiziellen Angaben, nicht wenige verloren Arme oder Beine. Zehntausende Familienmitglieder dürften von der Invalidität ihrer Angehörigen auch wirtschaftlich betroffen sein. In Deutschland schaffte es das Thema wieder mal in diverse Talk-Shows, und es Günther Jauch hatte einen selten intelligenten Moment, als er feststellte, dass an "unseren Kleidern Blut klebt".

Spendenkampagnen für die Betroffenen blieben aus, direkte Hilfe aus dem Westen, für den man produzierte, gab es keine. Stattdessen große Ankündigungen von allen Seiten, die Arbeitsbedingungen in Asien zu verbessern. Michael Sommer, DGB-Vorsitzender und Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes (der IGB vertritt nach eigenen Angaben 175 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in 305 Mitgliedsorganisationen und 151 Ländern), stellte im Mai dann auch postwendend ein Abkommen vor, dass Gewerkschaften und Unternehmen ausgearbeitet hatten:

Erst vor dem Hintergrund des qualvollen Todes von über 1000 Näherinnen und Nähern ist es den brancheninternationalen Gewerkschaftsbünden IndustriAll und UNI global union gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen gelungen, eine Reihe namhafter Textilmarken und Händler dazu zu bewegen, ein längst überfälliges rechtsverbindliches Brandschutzabkommen für Textilfabriken in Bangladesch zu unterzeichnen. Der Auslöser für das Abkommen in Bangladesch war eine menschliche Tragödie. Das jetzt vorliegende Ergebnis macht Mut und gibt den Näherinnen und Nähern vor Ort endlich eine bessere Zukunftsperspektive.

Historischer Wendepunkt?

Das hört sich auf den ersten Blick gut an, zumal sich – allerdings erst nach(!) dem Druck der Presseberichterstattung Ende April – 32 namhafte Konzerne wie H&M, C&A, Lidl, Otto, kik, Zara, Aldi, Esprit daran beteiligen möchten. Vor dem Fabrikeinsturz gab es kaum Resonanz aus der Wirtschaft für das lange ausgehandelte Auskommen, nur Tchibo und Calvin Klein waren als große Namen genannt worden. Für vier Millionen Beschäftigte in Bangladesch soll diese Absichtserklärung ein "historischer Wendepunkt" sein.

Ein historischer Wendepunkt? Ob es das wirklich ist, bleibt fraglich aus verschiedenen Gründen: Zum einen ist der Vertrag tatsächlich nur auf fünf Jahre angelegt und tritt nur(!) in Bangladesch in Kraft, weshalb Sommer auch von "Modellcharakter" spricht. Zweitens haben internationale Branchenriesen wie Wal-Mart, Gap oder Metro – alleine letzteres Unternehmen betreibt rund 1.200(!) Fabriken in Asien – keinerlei Interesse an einer freiwilligen Zusammenarbeit bekundet. Das dritte Problem dürfte die Transparenz sein. Sommer warb mit der Neuartigkeit des Commitments:

Sie gibt den Beschäftigten nicht nur Rechtssicherheit, sondern schafft transparente Mechanismen zur Überwachung und Umsetzung von vereinbarten Standards. Scheinbar eindrucksvolle Zertifizierungen und Selbstverpflichtungserklärungen an den Toren maroder Fabriken helfen den Menschen nicht weiter.

Dass darauf Verlass ist in Zukunft, darf bezweifelt werden. Schon bisher ließen sich deutsche Unternehmen ihre Standards vor Ort von den Auslandsdependancen des TÜV Bangladesch zertifizieren. Man hoffte, dass der anerkannte Ruf des TÜV das soziale Image verbessern sollte. Reporter des ARD-Magazins Monitor wiesen jüngst aber nach, dass die TÜV-Kontrollen nichts mit der Realität zu tun haben und in Wahrheit eher gekaufte Gütesiegel sind. Das neue Abkommen wirbt nun mit Prüfsiegeln der Washingtoner NGO CCC (Clean Clothes Campaign). Da diese allerdings im Dunstkreis der Wirtschaftslobby angesiedelt ist, ist die Transparenz wohl auch hier ein fragwürdiger Aspekt. Ein ähnlich kurioser Umstand wie Wirtschaftswissenschaftler, die guthonorierte Studien zur Armut "erarbeiten" - und damit vor allem ihre eigene bekämpfen.

Der vierte und wichtigste Kritikpunkt an dem Abkommen der sogenannten Wirtschafts-Initiative "Saubere Kleidung" muss aber sein, dass es unter dem medialen Eindruck der Katastrophe vom letzten Jahr "nur" um den Brandschutz und einen grundlegenden Arbeitsschutz geht, der eigentlich selbstverständlich sein sollte. Zwar könnte die Verbesserung des Brandschutzes in Zukunft hunderte Menschenleben retten – schlimm genug, dass es dazu Verhandlungen bedurfte – und damit ergibt es einen kleinen Unterschied, der für die Bangladeschis einer um Leben und Tod ist.

Nicht die "Unfälle" in den Fabriken sind die wirkliche Katastrophe, sondern die Arbeitswelt an sich

Mit der zumindest halbwegs menschlichen Arbeitswelt im Westen hat der Alltag der Bangladeschis in Zukunft aber auch weiter nichts gemeinsam. Die Liste derjenigen immer noch fehlenden Standards, für die der Internationale Gewerkschaftsbund eigentlich hätte eintreten müssen, ist lang: Arbeitszeitrichtlinien, Pausenvereinbarungen, verbindlicher Schutz der körperlichen Unversehrtheit, garantierte Toilettengänge, Überstundenregelung, Urlaubsanspruch, Krankengeld, Rechtsschutz, soziale Absicherung, Betriebsräte, angemessene Bezahlung – um nur die wichtigsten zu nennen.

Zwar ist Bangladesch eines der ärmsten Länder der Welt, was eine allgemeine soziale Absicherung – und damit eine auch eine bürgerliche Vertragsverhandlungsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt – oberflächlich betrachtet erschwert, aber gerade deshalb und mit dem Wissen um die Milliardengewinne, die westliche Konzerne in Bangladesch und Asien mit der Kleidungsproduktion erzielen, sollten diese Forderungen unumgängliche Mindestforderungen sein.

Nicht zufällig ist wohl Bangladesch als Armenhaus der Welt aber mit die größte Produktionsstätte für Textilien – das neue Abkommen, das angeblich für moralisch und ethisch saubere Kleidung steht, wird nichts an der menschenverachtenden und barbarischen Ausbeutung der Arbeitskraft der Menschen dort ändern, die jeden Tag und jede Nacht stattfindet und nicht nur, wenn sie in westlichen Medien präsent ist. Nicht die "Unfälle" in den Fabriken sind die wirkliche Katastrophe, sondern die Arbeitswelt an sich in Bangladesch ist die Katastrophe in Permanenz – und eine abermillionenfache Menschenrechtsverletzung, die von der westlichen Welt toleriert und gewollt wird, um weiter "zehn Teile für 80 Euro" kaufen zu können, auch wenn die normalverdiende Mittelschicht etwa in Deutschland diese Sparsamkeit wohl kaum nötig hat.

Die kapitalistische Produktion aber sucht sich immer ihre billigsten Opfer – vor zehn Jahren noch war China Hauptproduktionsort preiswerter Kleidung für den Westen. Nachdem es zu massiven Arbeitskämpfen im ganzen Land kam, ordnete die chinesische Regierung bessere Arbeitsbedingungen an, was die Produktionskosten für westliche Unternehmen erhöhte. Seitdem entstehen in Bangladesch immer neue Textilfabriken, rund zehntausend gibt es schon, zumeist in stickigen Hochhäusern im Großraum Dhaka untergebracht.

Die archaisch geprägte Klassengesellschaft in Bangladesch wird das neue Abkommen keineswegs auflösen helfen – im Gegenteil: es könnte gar dazu führen, dass der permanente soziale Konflikt (untertrieben ausgedrückt, wenn man sich den finstersten Frühkapitalismus dort betrachtet) im Land unter dem generösen Verweis auf angebliche Mindeststandards im größten Arbeitssektor dort von den Eliten unter den Teppich gekehrt wird. Das soziale und nachhaltige Image, dass sich vor allem deutsche Unternehmen und die deutsche Regierungspolitik gerne geben, produziert einen Mehrwert wohl leider einzig für die Marketing-Maschinerie der deutschen Wirtschaft im In- und Ausland.

Über "good gouvernance" referiert etwa Außenminister Westerwelle gerne, die schwächsten Glieder in der globalisierten Wirtschaft aber möchte man nicht in demokratische Strukturen einbinden: So blieb Michael Sommer zur Vorstellung des Abkommens nur ein schüchterner Appell an die Regierung in Bangladesch übrig, sie möge doch endlich Gewerkschaften für alle Beschäftigten offiziell zulassen und anerkennen. Die deutsche Gesellschaft macht sich in ihrer täglichen Konsumpolitik mitschuldig an der Stagnation der gesellschaftlichen Entwicklung in Bangladesch. Denn trotz der Armut gehört es kulturell zu den tolerantesten und aufgeschlossensten muslimischen Ländern in der Welt und könnte – wenn es der wirtschaftlich dominante Westen, für den das Land fast gänzlich und existenznotwendig produziert, es denn wirklich wollte (alleine 80% des Exportes machen Textilien aus) – ein Paradebeispiel für die Entwicklung gesellschaftlichen Potentials sein.

Bis dieser wahrlich konziliante Zustand eintritt, wird die globale Marktwirtschaft aber weiterhin ganz einfach zu verstehen sein, trotz oder gerade wegen des Abkommens Initiative Saubere Kleidung: Die paar Euro, die der deutsche Käufer bei kik spart, sind die paar Euro Lohn, die der Näherin in Bangladesch geraubt werden für ihre Hände Arbeit.