ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral
Seite 5: Gesellschaft und Gesundheitsmarketing
- ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral
- Seit 2013 wurden in den USA mehr als 100 Tonnen Amphetamin und Methylphenidat produziert
- Wurzel der molekularbiologischen Psychiatrie
- Systematische Probleme des herrschenden Ansatzes der Psychiatrie
- Gesellschaft und Gesundheitsmarketing
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Wissenschaftssoziologen haben beschrieben, wie ADHS, ausgehend von den USA, global exportiert wurde und immer noch wird. Das Störungsbild, das vor den 1990ern kaum bekannt war, gehört heute in vielen Ländern weltweit zur Normalität. Melissa Sherman von der University of Southern California hat sich die Mechanismen der Medikalisierung und des Marketings von ADHS genauer angeschaut.
Ihre Darstellung ist nicht in allen Punkten präzise; sie diskutiert jedoch die interessanten Thesen, dass die Zunahme der Diagnosen einerseits mit der steigenden Akademisierung der Schulen zusammenhänge, andererseits aber auch mit dem Verbot der körperlichen Züchtigung von Kindern.
In jeder Generation gab und gibt es schwer erziehbare Kinder. Dass diese weniger geschlagen werden als früher, mag man als zivilisatorischen Fortschritt auffassen. Ob das Attestieren einer Gen- und/oder Gehirnstörung ehrlicher ist, mag jeder für sich selbst beantworten.
Die Suche geht weiter
Die psychiatrische Forschung wird bis auf Weiteres so fortfahren wie bisher - und einerseits weiter Gehirntheorien produzieren, die nur hypothetisch sind und bleiben, andererseits immer wieder Gene finden, deren Effekte praktisch vernachlässigbar sind. In diese Studien fließen die erwähnten Forschungsmilliarden; auf ihnen beruhen die Forschungskarrieren der Leute, die gestern, heute und morgen an den Schalthebeln sitzen.
Hierzu zwei Gedanken: Erstens, wie wahrscheinlich ist es, dass jemals ein Biomarker für ADHS im Nervensystem gefunden werden wird? Wie wir gesehen haben, ist die Störung heute über zwei Mengen (für Aufmerksamkeitsprobleme beziehungsweise Hyperaktivität/Impulsivität) von jeweils neun Symptomen definiert. Von mindestens einer der beiden müssen mehr als fünf Symptome vorliegen. Dies liefert bereits 130 Kombinationen pro Menge, ohne Kombinationen der beiden zu berücksichtigen.
Mehr als 65.000 Arten von ADHS
Da jeweils jede Ausprägung der einen Menge mit allen 130 der anderen Menge kombiniert sein könnte, komme ich bereits jetzt auf knapp 17.000 Phänotypen der ADHS laut DSM-5. Dazu kommt, dass beim Vorliegen von mindestens sechs Symptomen einer Menge die der anderen nicht mehr zwingend notwendig sind. Deshalb kann man die 130 Varianten der einen mit 512 der anderen kombinieren und kommt schon auf über 65.000 Varianten.
Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, was sonst noch, also außer den 18 Symptomen, das Nervensystem eines Menschen beeinflusst; und es ist stillschweigend vorausgesetzt, dass sich solche Symptome beziehungsweise Zusammenstellungen davon in den Gehirnen verschiedener Menschen auf dieselbe Weise äußern. Diese Annahme beruht aber auf purem Pragmatismus - oder in anderen Worten: Wunschdenken.
Natur und das DSM
Zu guter Letzt sind die Symptombeschreibungen soziale Konstrukte, die am Konferenztisch entstanden sind. Was für ein Zufall, ja ein Wunder, müsste es sein, hätte die Natur es so eingerichtet, dass in den Nervensystemen aller Menschen stabile Muster zu finden wären, die unserer heutigen Beschreibungsform entspricht? Mit anderen Worten: Die Natur hat das DSM nie gelesen; und sie hat ihm auch nicht zugestimmt.
Was wäre unter diesen Umständen denn das einzig Vernünftige, als die ewige wie ewig erfolglose Suche nach zuverlässigen Biomarkern psychischer Störungen endlich aufzugeben?
Dieselben Probleme wiederholen sich auf der Ebene der Gene. Dazu kommt aber, dass uns hier häufig Effektgrößen zur Beurteilung der praktischen Relevanz der Ergebnisse vorliegen. Anders als die statistische Signifikanz allein, die vor allem ein notwendiges Kriterium für die Publizierbarkeit einer Arbeit ist, sagt die Effektgröße etwas über die praktische Relevanz eines Fundes aus. Gerade im klinischen Kontext, wo es also um Diagnose und Behandlung geht, ist dieses Maß viel wichtiger als die Signifikanz.
Effektgrößen von Genstudien
Effektgrößen werden in solchen Studien oft als Quotenverhältnis (engl. odds ratio) ausgedrückt. Dieses beschreibt die "Chance", dass Mitglieder einer Gruppe (z.B. Raucher gegenüber Nichtrauchern) ein bestimmtes Merkmal haben (z.B. Lungenkrebs bekommen). Ein Quotenverhältnis von 15 für schweres Rauchen bedeutet, dass die Chance, dass diese Raucher Lungenkrebs bekommen, fünfzehn mal so hoch ist.
Das ist eine realistische Zahl, die im Folgenden als Vergleichswert dienen soll. Der Zusammenhang zwischen langjährigem Kontakt mit Asbest am Arbeitsplatz und einem Mesotheliom, einem bestimmten Tumor, ist ähnlich stark. Laut einem Vorschlag Kenneth Kendlers, Professor an der University of Virginia und einer der führenden Genetiker in der Psychiatrie, ist ein Effekt dieser Größe "stark". Für ein bestimmtes Gen und die Alzheimererkrankung wurde ein Quotenverhältnis von 5 gefunden, nach Kendler ein "moderater" Zusammenhang.
Riesige Studien, mäßige Effekte
Die große Frage ist jetzt, welche Quotenverhältnisse für die Gene gelten, die in der Psychiatrie gefunden wurden, insbesondere für ADHS. Stephen Faraone von der State University of New York, einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, fasste mit einigen Kolleginnen und Kollegen eine Reihe solcher Gene zusammen: Deren Quotenverhältnisse liegen im Bereich zwischen 1,13 und 1,45, also weniger als ein Zehntel der "starken" Effekte. Laut Kendler sind dies nur noch "mäßige" Funde.
So kleine Effekte sind keineswegs die Ausnahme, sondern die Regel in der Psychiatrie. Wegen des Heiligen Grals der vorher erwähnten, falsch interpretierten Erblichkeitswerte suchen Forscherinnen und Forscher weltweit aber immer weiter und weiter. Die Technologie ist inzwischen so billig und automatisiert, dass dabei das ganze Genom untersucht werden kann, anstatt einzelner Gene, wie noch vor einigen Jahren.
Immer mehr Daten statt Lösungen
Daher werden in sogenannten Genomweiten-Assoziationsstudien (GWAS) inzwischen die Daten Zehntausender Menschen untersucht. Dabei kommen immer mehr Gene mit kleinen Effektgrößen heraus. Diese werden bei größeren Stichproben nämlich statistisch signifikant. Wären die Effekte größer, hätte man sie auch mit kleineren Gruppen schon entdeckt. Fürs reine Publizieren ist das eine erfolgreiche Strategie. Patientinnen und Patienten werden davon aber wahrscheinlich nie etwas haben.
Wohlgemerkt fließen all die erwähnten theoretischen Probleme bei der Beschreibung der ADHS ungelöst in diese Studien ein. Es scheint ein blindes Vertrauen darin zu geben, dass durch die Sammlung von immer mehr Daten und das Optimieren der Messverfahren die grundlegenden Probleme irgendwann von selbst verschwinden. Wie wir gesehen haben, ist das sehr unwahrscheinlich; die rund 35.000 Publikationen, die wir bereits zu ADHS haben und die unter ähnlichen Prämissen entstanden, vermochten dies schon nicht.
Vergessene Umwelt
Wie würden Alternativen aussehen? Zum einen wissen wir längst, dass Umweltfaktoren einen viel stärkeren Einfluss auf die psychische Gesundheit haben als die hier genannten Gene. So beträgt beispielsweise das Quotenverhältnis zwischen schweren Lebensereignissen wie Scheidungen, Todesfällen oder Arbeitslosigkeit und Depressionen in etwa 15.
Eine neuere dänische Untersuchung konnte belegen, dass das Quotenverhältnis zwischen erlebter Kindheitsmisshandlung und Alkoholmissbrauch bei jungen Männern zwischen 3 und 5 liegt, bei jungen Frauen sogar zwischen 16 und 25.
Diese Effekte sind nicht nur größer - in der Umwelt lässt sich in der Regel auch einfacher intervenieren als im Gehirn oder gar in den Genen. Es ist allerdings aufwändiger, Eigenschaften der Umwelt zu operationalisieren und man braucht dafür Forscherinnen und Forscher mit Grundwissen in sozialwissenschaftlichen Methoden statt teurer Apparate.
Einseitigkeit hat ihren Preis
Führende Vertreter des molekularbiologischen Ansatzes wie Steven Hyman, Thomas Insel oder jetzt Joshua Gordon, die seit mehr als 20 Jahren die Milliarden des National Institute of Mental Heath (NIMH) verteilen, predigen weiter gebetsmühlenartig, dass für die Zukunft der Psychiatrie die Neurowissenschaften und Genetik entscheidend sein werden.
Eine Gruppe amerikanischer und britischer Psychiaterinnen und Psychiater veröffentlichte vor Kurzem aber einen Aufruf, die Förderprioritäten ihres Fachs zu überdenken. Sie kritisierten etwa scharf, dass 85% der Fördermittel des NIMH in neurowissenschaftliche Forschung flössen. Dadurch blieben vielversprechende therapeutische und präventive Ansätze auf der Strecke, die schon heute Familien beim Erziehen von Kindern unterstützen oder Lernumgebungen verbessern könnten.
Auch zur Prävention von Selbstmorden gebe es Verfahren, die sich wegen fehlender Gelder aber nicht in die Praxis umsetzen ließen. Im Einklang damit kritisierten auch die oben erwähnten Cochrane-Berichte, dass es zu wenig Forschung zu therapeutischen Alternativen jenseits von Medikamenten zur Behandlung von ADHS gebe. Manchen Forschungsberichten zufolge könnte schon Sport für Betroffene eine Hilfe sein.
Mensch an Umwelt anpassen oder andersherum?
Die Analyse von 34 Arbeiten durch ein Forschungsteam um Ruth Gwernan-Jones von der Uniklinik in Exeter (Vereinigtes Königreich) brachte zutage, dass sich ADHS-Symptome am ehesten in Schulkontexten äußern, in denen man still sitzen, leise sein und sich konzentrieren muss.
Das mag sich trivial anhören, kann man aber auch auf andere Weise interpretieren: Nicht jede (akademische) Schulform, nicht jede (kognitive) Arbeitsform ist für jeden Menschen geeignet. Wie viele Diagnosen ließen sich vermeiden, würde man nicht das Individuum an die gewünschte Umwelt anpassen, sondern eine passende Umwelt für das Individuum finden? Die Forscherinnen und Forscher fanden übrigens auch heraus, dass die Diagnose einerseits die Symptome verschlimmern, andererseits das Selbstbild der Betroffenen beschädigen kann.
Bilanz des "immer weiter so"
In Reaktion auf mein Buch "Die Neurogesellschaft" schrieb mir vor einigen Jahren ein Psychiater, Chefarzt an einer deutschen Klinik, er stimme mir in vielen Punkten zu. Trotzdem würde er seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Buch nicht empfehlen. Er habe bedenken, sie könnten dann mit der Arbeit aufhören. Wie viele Fachleute im vorherrschenden Paradigma wohl tagtäglich mit einer gewissen Selbstverleugnung an den Arbeitsplatz gehen mögen?
Ob denjenigen, für die dieses System gedacht ist, den Patientinnen und Patienten, im Falle ADHS unterm Strich damit gedient ist oder nicht, ist alles andere als klar. Und das war immerhin auch die Schlussfolgerung der unabhängigen Cochrane-Berichte, die die höchsten wissenschaftlichen Standards anlegen.
Fest steht, dass 30 Jahre seit Kodifizierung der Störung kein Biomarker gefunden wurde, weder im Gehirn noch im Genom. Das erinnert verdächtig an die Geschichte der "Minimal Brain Dysfunction", dem Vorgänger von ADHS im frühen 20. Jahrhundert.
Statt Medikalisierung und Diagnosen
Es ist immer normaler geworden, Probleme medizinisch-psychologisch zu verstehen und zu behandeln. Die heutigen Kinder kennen es gar nicht mehr anders. ADHS war vor den 1990ern nahezu unbekannt. Haben sich die Schulen durch diese medizinisch-psychologische Praxis nun wirklich verbessert?
Oder ist nicht umgekehrt Vieles komplizierter geworden, nicht zuletzt durch die vielen Fachleute, die heute alle mitreden? Und natürlich auch bezahlt werden wollen. Vielleicht sollten wir gelegentlich an die Empfehlung der Pädagogin und ADHS-Forscherin Laura Batstra von meiner Fakultät denken: "Wie können wir ADHS vorbeugen? Indem wir es nicht diagnostizieren."