ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral

Seite 4: Systematische Probleme des herrschenden Ansatzes der Psychiatrie

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Wir fingen mit offenen Fragen zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung an und kamen jetzt auf eine Fundamentalkritik des herrschenden Ansatzes der Psychiatrie - und den molekularbiologischen Teilen der klinischen Psychologie. Was man auch von der inhaltlichen Kritik halten mag: Am Beispiel ADHS mit seinen rund 35.000 Publikationen wurde deutlich, dass diese Forschung scheitert; und zwar systematisch.

Dass die Qualität der Studien gering ist, dass die Interessenkonflikte groß sind, dass die Dauer der Untersuchungen zu kurz ist - all diese Befunde sind nicht neu, sondern lese ich immer wieder, seit ich mich mit der relevanten Literatur befasse, also seit rund fünfzehn Jahren. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die diese Studien anfertigen, wissen selbst um ihre Beschränkungen, wahrscheinlich sogar besser als alle anderen. Warum tun sie es dennoch?

Erfolge am laufenden Band

Sie können nicht anders, da sie das System dazu zwingt, Erfolge am laufenden Band zu produzieren. Die inzwischen weit fortgeschrittene Standardisierung und Automatisierung lebenswissenschaftlicher Forschung zusammen mit der Ausbeutung hochqualifizierter Nachwuchskräfte (Doktorandinnen und Doktoranden sowie Postdocs) kommen diesen Erwartungen zugute. Wer es dennoch nicht schafft, der hat kaum Karrierechancen oder fliegt sogar ganz raus. Das beflügelte Wort vom "publish or perish", publiziere oder gehe unter, wurde schon in den 1930/1940er Jahren formuliert.

Heute reicht das längst nicht mehr, sondern heißt es: Get funds, publish research, communicate in the media, build your network, be cited or perish. Kaum eine Universität oder ein Forschungsinstitut kommt noch ohne Planstellen für Projektmittel und PR-Arbeit aus. Forscherinnen und Forscher betrachten sich selbst als Projekt, das es für Fördermittel, Publikationspunkte und Medienaufmerksamkeit zu "verkaufen" gilt. Doch sind solche Management- und Kommunikationstätigkeiten wirklich das, worum es in Wissenschaft gehen sollte?

Auch Gesundheitsmarkt muss wachsen

Kommen wir zum Schluss auf die Kinder - und zunehmend Erwachsenen - mit ADHS-Diagnose zurück. Diese haben zweifellos Schwierigkeiten, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden. Dass man solche Probleme medizinisch fasst und behandelt (Medikalisierung) und dabei die Ursache im Individuum verortet, entspricht unserem Zeitgeist (Wenn Psychologie politisch wird: Milliarden zur Erforschung des Gehirns). Medikalisierung ist ein wichtiger Wachstumsfaktor in einem Gesundheitssystem, das zunehmend nach marktwirtschaftlichen Prinzipien organisiert wird.

Auch wenn vielen das nicht gefällt: Die Diagnose ADHS ist oftmals eine gesellschaftliche Rechtfertigung zum Verschreiben von Drogen. Wenn Menschen heute zum Abnehmen, Abtanzen oder Durchfeiern Speed oder Ritalin® schlucken, dann kriegen sie es mit der Kriminalpolizei zu tun. Erhalten sie die Substanzen mit Betäubungsmittel-Rezept aus der Apotheke, dann ist alles gut (Kapitalismus und psychische Gesundheit). Ja, ärztliches Handeln kann wahrlich wie Wunder wirken. Wie ehrlich es ist aber, den Betroffenen zur Rechtfertigung dieser Praxis eine Gehirnstörung zu attestieren?

Vom Zweiten Weltkrieg zum "War on Drugs"

Eine kurze historische Anmerkung: In Deutschland erfreute sich Amphetamin in den 1930er-Jahren zunehmender Beliebtheit. Der Künstler Hans-Christian Dany ("Speed: Eine Gesellschaft auf Droge") und der Journalist Norman Ohler ("Der totale Rausch: Drogen im Dritten Reich") haben lesenswerte Studien über die früheren Leben der Psychostimulanzien veröffentlicht. Vielleicht hätte Deutschland den Blitzkrieg ohne Amphetamin ("Panzerschokolade") nicht durchhalten können - und wären die Nazis schon beim Feldzug in Frankreich gestoppt worden.

Auch Adolf Hitler bekam von seinem Privatarzt Theodor Morell - eigentlich ein Urologe, doch auch ein Mann mit Ambitionen - große Dosen Methylamphetamins ("Chrystal Meth") verabreicht. Es ist rückblickend natürlich Spekulation, doch seine Wahnzustände, denen ein ganzes Volk folgte beziehungsweise folgen musste, oft genug bis in den Tod, könnten zum Teil auch Nebenwirkungen des Amphetaminkonsums gewesen sein.

In den 1950er und 1960er Jahren waren die Stimulanzien in den USA sehr beliebt. In Reklame ist belegt, dass dafür auch das bessere Funktionieren am Arbeitsplatz eine Rolle spielte. Frauen schätzen die Präparate ebenfalls als Diät-Mittel.

Dem gesellschaftlich akzeptierten Konsum wurde in den frühen 1970ern mit Richard Nixons "War on Drugs" vorerst ein Ende gesetzt. Über ADHS-Diagnosen einerseits, die Neuroenhancement-Diskussion andererseits (Enhancement: Wer will immer mehr leisten?), erhielten Psychostimulanzien wieder Einzug in die Gesellschaft.

Werturteile und Drogen

Es ist wichtig, die Werturteile im Umgang mit den Drogen offenzulegen: Soldaten, die fürs Vaterland einen sinnlosen Krieg führen, dürfen, ja müssen vielleicht sogar zugreifen. Auch in der Schule, im Studium und am Arbeitsplatz ist es erwünscht, jedenfalls in Maßen, wenn die Menschen dadurch besser funktionieren; oder einfach still sitzen und niemanden stören. Konsumieren erwachsene Menschen hingegen aus freien Stücken solche Mittel, um Spaß zu haben, dann drohen Gefängnisstrafen.

Kehren wir zurück in die Gegenwart: Die Nebenwirkungen der heute medizinisch verabreichten Psychostimulanzien - vor allem Appetitlosigkeit, Schlafprobleme und Bauchschmerzen - sind überschaubar, sollten bei Kindern jedoch nicht vernachlässigt werden. Ein weiteres Risiko, das man nicht unterschätzen sollte, ist das der Stigmatisierung: dass Betroffene, die ohnehin schon Schwierigkeiten haben, mit dem Umfeld mitzuhalten, durch die Diagnose ADHS zusätzliche Probleme bekommen.

Stigmatisierende Diagnosen

Fachleute aller Couleur, also vor allem Ärztinnen, Psychiater und Psychologinnen, wollen Nachteilen durch Stigmatisierung vorbeugen. Tatsächlich sind sie aber selbst diejenigen, die mit ihren Diagnosen die Betroffenen überhaupt erst stigmatisieren. Der einzige Grund dafür sind Praktiken der Abrechnung von Gesundheitsleistungen und Erforschung von Problemen, die ohne derartige Kategorien nicht auskommen. Diagnostizieren dient vor allem den Interessen der Fachleute, nicht der Betroffenen.

Der Psychologe Matthew Lebowitz von der Yale University hat in einer neueren Arbeit die Forschung zur Stigmatisierung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS-Diagnose zusammengefasst. Sein Fazit ist deutlich: Die Diagnose rufe bei anderen negative Einstellungen hervor und den Wunsch, auf Distanz zu gehen; dieser Effekt bleibe zudem in allen Lebensphasen bestehen. Die Stigmatisierung von Menschen mit ADHS-Diagnose sei mindestens so groß wie die von Depressiven.

Negative Folgen von Diagnosen

Gleichaltrige würden davon ausgehen, dass die Betroffenen eher in Schwierigkeiten geraten und für ihre Probleme selbst verantwortlich sind. Damit ist übrigens auch gezeigt, dass der molekularbiologische Ansatz die Menschen nicht immer aus der moralischen Verantwortlichkeit für ihre Situation zieht. Lehrer und Eltern würden Betroffenen geringere akademische Fähigkeiten zutrauen. Laut Lebowitz überträgt sich das Stigma der mit ADHS diagnostizierten Kinder sogar auf die Eltern, weswegen diese manchmal versuchten, die Sache geheim zu halten.

Schließlich sollte man nicht vergessen, dass sich psychologische Diagnosen, manchmal erst viele Jahre später, negativ auswirken können. Beispiele sind das Anfragen von Versicherungen oder die Aufnahme bestimmter Arbeitsverhältnisse, etwa der Verbeamtung. Der Arbeitgeber könnte dann behaupten, das Risiko von Krankheitsausfällen oder einer Frührente sei zu hoch. Juristisch lässt sich gegen solche Entscheidung in der Regel wenig ausrichten. Manche lügen darum bei der Einstellung und begehen (mindestens) ein Betrugsdelikt, das später empfindlich auf einen zurückfallen kann.