AKW-Flamanville: Trotz großer Sicherheitsprobleme ans Netz?
Obwohl der Stahl des Druckbehälters mangelhaft ist, will die französische Atomaufsicht den Betrieb des Atomkraftwerks zunächst zulassen
Würden Sicherheitsbehörden ein Flugzeug abnehmen und in den Himmel steigen lassen, bei dem zum Beispiel das Material der bedeutsamen Tragflächen nicht den Sicherheitsanforderungen entspricht? Würde man die Zulassung zeitweise genehmigen, um das Material nach einigen Jahren erneut zu untersuchen, wobei sogar unklar ist, wie das dann geschehen soll? Die Fragen können mit Nein beantwortet worden.
Doch offenbar ist die französische Atomaufsicht ASN genau zu diesem Vorgehen im Fall des neuen Atomreaktors in Flamanville bereit. Denn der Stahl des Druckbehälters des neuen European Pressurized Reactor (EPR) entspricht nicht den Sicherheitsanforderungen und bedroht damit das Leben von ungezählten Menschen, aber soll trotz allem wohl 2018 ans Netz gehen.
Das Reuters mit Bezug auf eine lange erwartete Studie der Autorité de sûreté nucléaire (ASN) berichtet, die der Nachrichtenagentur in Kopie vorliegt. Tatsächlich fand gerade in diesen Tagen ein Treffen von Experten statt, auf dem in der Atomaufsicht über "Anomalien am Reaktordruckbehälter des EPR" geredet worden ist. Anomalien nennt die ASN die Tatsache, dass in einer Schmiede des staatlichen Kraftwerksbauers Areva seit Jahrzehnten Sicherheitsanforderungen nicht erfüllt wurden. Bei "Creusot Forge" wurden seit 1965 Sicherheitszertifikate für Bauteile gefälscht, die weltweit in Atomkraftwerken verbaut wurden.
Über den EPR-Neubau in Flamanville kamen "Anomalien" einst ans Tageslicht. Nach Angaben des Reuters vorliegenden Berichts soll die ASN nun aber festgestellt haben, dass Areva nicht in der Lage war, ausreichende Tests am Deckel des EPR-Reaktorbehälters durchzuführen, als dieser noch zugänglich war. Diese Tests seien aber unabkömmlich, um die Sicherheit für die geplante Laufzeit von 60 Jahren zu gewährleisten, wird der ASN-Bericht von Reuters zitiert.
Deshalb kommt man bei der Atomaufsicht aber zu einem merkwürdigen Schluss. Man will offenbar den Betrieb des EPR einige Jahre zulassen, auch wenn der Betreiber EDF keine weiteren Tests mehr durchführen kann. Sie sind schon wegen des vorgesehenen Zeitplans nicht mehr möglich, weshalb sich die ASN mit einem Gang durch die Mitte durchzuwinden versucht. Sonst würde sich die ohnehin schon um sechs Jahre verschobene Inbetriebnahme - geplant ist nun 2018 - noch deutlich weiter verzögern. Deshalb stellt die Atomaufsicht nur fest, dass der "derzeitige Deckel nicht diensttauglich für einen permanenten Betrieb" sei, da "ausreichende zerstörungsfreie Prüfungen" fehlten.
Politisch gewolltes Inkaufnehmen von Risiken
Gegen eine baldige Inbetriebnahme hat man aber offensichtlich trotz allem nichts einzuwenden. Eigentlich müssten aber bei einem solch gefährlichen Reaktor fehlende Prüfungen dazu führen, dass zunächst alle Sicherheitsnachweise angefordert werden. Bis sie nicht erbracht sind, dürfte er aus Sicherheitsgründen nicht in Betrieb gehen. Bei der Atomaufsicht ist man aber offensichtlich der Meinung, dass der Betrieb mit dem verbauten mangelhaften Deckel des Reaktordruckbehälters ohne entsprechende Kontrollen für "in paar Jahre" in Betracht gezogen werden kann.
Ein definitiver Bericht über die laufenden Untersuchungen zur Stahlqualität am Druckbehälter des EPR in Flamanville soll im September vorlegt werden. Der soll dann die Basis für letztendliche Entscheidung sein. Aber eigentlich zeigt ein Blick in die Vorgänge der Vergangenheit längst, wohin die Reise gehen soll. Der Reuters-Artikel bestätigt das nur noch.
Dabei ist es ein Unding, ein so gefährliches Kraftwerk in Betrieb nehmen zu wollen, obwohl es nicht einmal ausreichende Tests am Druckbehälter gab, der das zentrale Sicherheitselement eines Atomkraftwerks bildet. Somit ist eigentlich auch klar, dass es sich um eine politische Entscheidung handelt. Denn das Mindeste zu fordern, also ausreichende Tests und/oder einen Austausch des Deckels, würde das Projekt erneut um etliche Jahre verzögern und zudem weiter deutlich verteuern.
Das ist politisch nicht gewollt, schließlich hängt man beim EPR nicht nur sechs Jahre hinter dem einstigen Zeitplan her, sondern auch die Kosten sind längst durch die Decke geschossen. Wurden einst drei Milliarden Euro veranschlagt, haben sich die Kosten schon mehr als verdreifacht. Schon 2015 ging man von Kosten in Höhe von 10,5 Milliarden Euro aus, um den angeblich billigen Atomstrom erzeugen zu können.
Die EPR-Baustellen und Kostenexplosionen haben den Kraftwerksbauer Areva bereits in die Pleite getrieben. Der Staatskonzern wird zerschlagen und die Reaktorsparte dem staatlichen Energieversorger EDF aufgeladen. Dem hochverschuldeten Atomkraftwerksbetreiber droht ebenfalls eine große Schieflage, sollte sein EPR-Abenteuer scheitern. Das wird aber auch angesichts des Neubaus im britischen Hinkley Point befürchtet. Dieses Projekt sollte der Rettungsanker für Areva und EDF sein, könnte ihnen aber das Rückgrat brechen.
So drängt sich der Eindruck auf, dass nach politischen Vorgaben und nach Staatsräson in Flamanville ein Kompromiss gesucht wird, bei dem die Sicherheit der Bevölkerung jedenfalls nicht im Vordergrund steht. Der Kompromiss soll nach dem von Reuters zitierten ASN-Bericht so aussehen, dass sich die EDF als Betreiber dazu verpflichtet, den fehlerhaften Deckel des Druckbehälters in den ersten zehn Betriebsjahren auszutauschen, falls die von ihr für das Jahr 2025 angesetzten Prüfungen zu einem negativen Resultat kommen. Oder falls der Reaktor bis dahin schon einen fatalen Unfall erlitten hat, weil der Druckbehälter den extrem hohen Anforderungen nicht standgehalten hat, möchte man hier hinzufügen.
Aber es kommt noch besser, denn Reuters zitiert auch den ASN-Bericht, dass die technischen Angaben von Areva und EDF an die Atomaufsicht "kurz" seien und "keine Informationen" über die "Durchführbarkeit" von späteren Tests geben würden.
Auch die Idee, eventuell 2025 einen neuen Deckel einzubauen, wenn die Test negativ ausfallen, hat es in sich. Dieses neue Bauteil müsste schon vor der nun geplanten Inbetriebnahme im kommenden Jahr bestellt werden. Areva gibt an, dass ein Austausch in etwa 80 Monaten möglich sei. Der Deckel könne "Ende 2024 verfügbar sein, wenn er noch 2017 bestellt wird". Das bedeutet, dass die staatliche EDF die Kosten für Flamanville durch die Bestellung eines neuen Deckels weiter in die Höhe treiben müsste, schon bevor er überhaupt ans Netz gehen soll. Im gegenteiligen Fall müsste der Meiler für Jahre abgeschaltet werden, wenn dann im Jahr 2025 bei bisher nicht spezifizierten Tests festgestellt würde, dass der Deckel die Sicherheitsanforderungen nicht erfüllt.
Sicherheitsrisiken gibt es neben dem Deckel auch beim Boden des Druckbehälters
Das wirklich Verrückte aber ist, dass längst bekannt ist, dass die gesetzlichen Vorgaben nicht erfüllt werden. Und die Probleme betreffen beileibe nicht nur den Deckel, sondern auch den Boden des Druckbehälters. Deshalb hatte kürzlich auch "Capital" auf die "Gefahren des Druckbehälters" hingewiesen.
Zitiert wurde eine Studie des Atomphysikers Gérard Gary. Nach dessen Angaben erfüllen weder Boden noch Deckel die gesetzlichen Anforderungen an die Widerstandsfähigkeit des Materials. In zwei Testreihen sei an Proben des Stahls, der für Flamanville verwendet wurde, durchschnittlich nur eine Kerbschlagzähigkeit von 52 Joule ermittelt worden. Areva hatte deutlich mehr erwartet. Dramatischer ist, dass gesetzlich ein Wert von mehr als 60 vorgeschrieben ist, weshalb dem Stahl keine ausreichende Widerstandskraft bescheinigt werden konnte, heißt es in der Studie des Instituts für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit (IRSN).
The values measured on two series of three test specimens give a mean value of 52 joules which does not attain the quality standard expected by AREVA. This mean value is also lower than the bending rupture energy value of 60 joules mentioned in point 4 of appendix 1 of the order reference [6], with which compliance would have been sufficient to prove the toughness of the material. (…) Failure to comply with the bending rupture energy criteria means that the toughness of the material cannot be confirmed as adequate.
IRSN
Capital übersetzt die Fachsprache so, dass es zu einem Bruch des Stahls kommen könne, was nach den gesetzlichen Vorgaben strikt verboten sei. Denn damit geht ein Verlust von Kühlwasser einher, was zu einem sehr schweren Unfall führe, meint die Zeitung. Sie spricht damit natürlich auch die Kernschmelze und einen Super-Gau wie in Tschernobyl oder Fukushima an. Zitiert wird die renommierte Physikerin Monique Sené, wonach diese Ergebnisse die Atomaufsicht logischerweise dazu bringen müssten, den Reaktorbehälter des EPR in Flamanville nicht zuzulassen.
Doch nach dem Reuters vorliegenden Bericht kommt die ASN eben zu einem anderen Ergebnis und will die Bevölkerung offenbar zu Versuchskaninchen machen. Und für den Boden des Reaktorbehälters ist die Einschätzung sogar noch positiver als für den Deckel. Den Boden hält man sogar für "diensttauglich", allerdings wird auch für ihn etwas eingeschränkt. Er benötige während der Laufzeit eine stärkere Überwachung. Man darf vermuten, dass das nicht am Stahl und durchgeführten Test liegt. Diese Sprachregelung wird wohl deshalb verwendet, weil ein Austausch des Bodens das definitive Ende des EPR in Flamanville bedeuten würde.
Doch das auch nur in Betracht zu ziehen, traut sich die ASN nicht, die offenbar nicht einmal fähig ist, schon jetzt den Austausch des mangelhaften Deckels zu verlangen, obwohl er nach einiger Ansicht nicht richtig getestet wurde. Man kann also die Auffassung der Sprecherin des französischen Netzwerks für den Atomausstieg nachvollziehen, die meint, dass man wohl nur noch "die Daumen drücken" könne. Charlotte Mijeon fordert, dass die Probleme am EPR statt zu einer Inbetriebnahme dazu führen müssten, dass er gestoppt wird.
Warum die untersuchten Proben des Flamanville-Stahls nicht die erforderliche Widerstandsfähigkeit aufweisen, wird in der IRSN-Studie auch benannt. Es sind die bekannten zu hohen Kohlenstoff-Konzentrationen in bestimmten Bereichen des Stahls. Sie beeinträchtigen die Widerstandsfähigkeit der betroffenen Bauteile. Aus der Materiallehre ist bekannt, dass höhere Kohlenstoffanteile den Stahl zwar härter machen, aber er wird darüber gleichzeitig auch spröder. Ein Bruch wird deshalb wahrscheinlicher.
An der Frage der Kohlenstoff-Konzentrationen zeigt sich auch die gesamte Widersprüchlichkeit der Atomaufsicht. Denn die ASN ließ wegen dieses Problems vor einem Jahr einen Block des Atomkraftwerks in Fessenheim am Oberrhein abschalten. Allerdings betrifft es hier "nur" einen Dampfgenerator und nicht den Reaktorbehälter. Die Abschaltung wurde aber vorgenommen, weil man nicht in der Lage war, "die Betriebsfähigkeit des installierten Dampfgenerators zu bescheinigen", hatte Julien Collet erklärt, der stellvertretende Direktor der Atomaufsicht. Nun will man bald aber offenbar die Kettenreaktionen im EPR zulassen, obwohl beim besten Willen nicht einmal die Betriebsfähigkeit des Reaktorbehälters bescheinigt werden kann. Und es war Collet, der eine Parallele zwischen Fessenheim und Flamanville zog. Denn am Oberrhein sei die Problemlage ähnlich wie "am EPR-Reaktorbehälter", sagte er.
Collet müsste wissen, wovon er spricht. Er hat die Vorgänge in Creusot Forge untersucht. In einer sehr hörenswerten Radiosendung von France Inter erinnert sich der stellvertretende ASN-Chef daran, wie fassungslos er über die Zustände in der Areva-Schmiede war, als er begriff, was in Creusot vorging: "Diese Praktiken stehen zu dem, was man von einem Hersteller dieses Niveaus erwartet, in einem derartigen Widerspruch, dass man es fast nicht glauben kann. Derartige Normabweichungen konnte man einfach nicht erwarten."
Kein Plan B für den Bruch des Druckbehälters
Aus den von France Inter veröffentlichten Dokumenten geht allerdings auch hervor, dass die Atomaufsicht längst von den Vorgängen in der Schmiede informiert war. Zwei Schreiben der ASN belegen, dass die massiven Probleme schon ein Jahr bekannt waren, bevor mit dem Schmieden des Deckels und des Bodens für den EPR begonnen worden war. Das erste stammt vom 16. Dezember 2005 und wurde von der ASN an die EDF geschickt. Beklagt wurde, dass im Rahmen der Herstellungskontrolle "jüngst zahlreiche Abweichungen beim Hersteller Creusot Forge festgestellt" worden seien. Gefordert wird vom Atomkraftwerksbetreiber "über diesen Leistungserbringer eine Überwachung auszuüben oder ausüben zu lassen".
Das zweite Schreiben zeigt, dass die ASN sogar im Mai 2006 noch einmal nachgehakt hat. Danach habe sich der damalige ASN-Chef André Claude Lacoste sogar persönlich nach Le Creusot begeben und gegenüber dem Radiosender bestätigt, dass er von dort "vollkommen bestürzt" zurückgekommen sei. Doch all das änderte nichts daran, dass trotz der massiven Probleme die Areva-Schmiede bald darauf die Teile für den EPR anfertigen konnte, der eine Renaissance der Atomkraft in Europa einleiten sollte.
Letztlich ist also die Atomaufsicht durch ihre mangelnde Aufsicht längst mit im Boot. Und so versteht man vielleicht auch ihre Versuche, durch die Mitte zu gehen, um die eigene Verantwortung für das Milliarden-Desaster klein zu halten. Glücklich war die ASN aber nie damit, dass die EPR-Teile bei Creusot Forge angefertigt wurden. Denn schnell hatte sie bei Areva nachgehakt und einen Nachweis vom Kraftwerksbauer darüber verlangt, dass der Boden und Deckel für Flamanville den Vorschriften entsprechen. Doch erneut zeigt sich ein zahnloser Tiger mit Namen Atomaufsicht. Denn über sieben Jahre wurde nur korrespondiert, die Teile wurden aber nicht geprüft.
Nun sind sie seit Jahren verbaut und praktisch kaum noch zu prüfen. "Das Unangenehme" sei, so führte France Inter aus, dass es für den Bruch des Druckbehälters keinen "keine Plan B" gäbe. Und zitiert wird hier auch der IRSN-Experte Thierry Charles, der ebenfalls die Unterlagen geprüft hat. Er resümiert: "Es liegt ein Material vor, dessen Zusammensetzung nicht den Erwartungen entspricht und bei dem man einen Bruch befürchten muss, wenn es den Druck- und Temperaturbedingungen ausgesetzt wird, wie sie im Reaktor herrschen."
Trotz allem muss inzwischen davon ausgegangen werden, dass das von Reuters dargelegte Szenario zumindest massiv von vielen Seiten angestrebt, wenn nicht sogar längst festgeklopft wird. Denn von einer erfolgreichen Sicherheitsprüfung des EPR in Flamanville hängt auch die Übernahme der Pleite-Areva durch die EDF ab. Schließlich hatte die EU vorbehaltlich eine Staatshilfe in Höhe von 4,5 Milliarden Euro für den Atomkonzern Areva genehmigt. Die Staatshilfe ist aber an einen Umstrukturierungsplan und an eine erfolgreiche Überprüfung des EPR geknüpft und darf vorher nicht ausgezahlt werden. In weiser Voraussicht aber, dass sich die ASN sich trauen dürfte, dem Fiasko-Reaktor den Segen abzusprechen, hat man in Brüssel schon einmal vorweg ein Überbrückungs-Darlehen Frankreichs in Höhe von 3,3 Milliarden Euro an Areva genehmigt.