Abarbeiten an Heimat und Geschichte

Seite 2: Sprachlosigkeit und Vorgestrigkeit

Im Übrigen mutet das Bild der rohen, sprachunfähigen und faschistoiden Landbevölkerung mehr und mehr wie ein elitär-bildungsbürgerlicher Dünkel von gesellschaftlichen Aufsteigern an, die ihr Herkunftsmilieu verachten, das Heil der Welt und die Rettung des Menschen nur in der Stadt, in der Sprache, im Buch, in der Literatur sehen.

Dieser Topos prägt auch bis heute die Werke der Anti-Heimat-Literatur, mit der man am österreichischen Buchmarkt auch gegenwärtig nichts falsch machen kann, egal, wie sehr das Publikum seufzend mit den Augen rollt, weil die nächste Nazi-Geschichte breitgetreten wird. Dabei ist weniger die (für den Autor grundsätzlich spannende) Thematik selbst, sondern die immer wieder gleiche Behandlung das Problem, weil sie sich in Klischees, Verkürzungen und Banalitäten erschöpft und in sadomasochistischer Manier (die zur Manie wird) penetrant Betroffenheit einfordert, die nicht selten durch eine bewusst dunkle (also uneindeutige) Sprache durchexerziert wird.

Immerhin gab es in den letzten Jahren auch einige popliterarische Versuche, sich die bösen Rechtspopulisten vorzuknöpfen (etwa Lydia Haiders "Am Ball" oder Mercedes Sprengnagels "Das Palais muss brennen"), wobei es bei deutlich tendenziösen Schreibereien aus der Sicht junger, urbaner Menschen bleibt.

Grundsätzlich scheint die österreichische Literaturszene eine derartige, fast schon unheimliche Besessenheit mit den Rechten zu haben, dass auch nach zweieinhalb Jahren Pandemie der Eröffnungs-Rednerin des diesjährigen Bachmannpreises, Anna Baar, nichts Besseres einfällt, als unter anderem über den ehemaligen Kärntner Landesfürsten und FPÖ-Politiker Jörg Haider zu fabulieren, der seit 14 Jahren tot ist.

Während über die maskierten und mit Tests und Impfungen drangsalierten Kinder geschwiegen wird, spricht Baar – gegenwärtig Preisträgerin des Österreichischen Staatspreises für Literatur – in ihrer Eröffnungsrede zudem über ehemalige Heimkinder, die in Kärnten von einem ehemaligen Nationalsozialisten und Kinderarzt in den 1980er-Jahren missbraucht wurden. Wen ekelt es nicht, wenn ehemalige NS-Ärzte hilflose Kinder vergewaltigen? Hier rennt man doch offene Türen ein.

Während die Schriftsteller der 1960er- und 1970er-Jahre sich bei ihrer Kritik noch wirklich exponiert haben, so ist das gegenwärtige Thematisieren von Nationalsozialisten und Kinderschändern nichts, was irgendwen vor den Kopf stößt.

Dass man sich nach derartigen gesellschaftlichen Verwerfungen, wie wir sie in zweieinhalb Jahren Krise, nunmehr getoppt durch einen scheußlichen Krieg mit katastrophalen Folgen, erlebten, in enigmatischen Andeutungen und Vergangenheitsbeschwörungen verliert, zeugt nicht gerade von einem gegenwartsbezogenen Literaturverständnis, sondern eher von einer solipsistischen Nabelschau, die über das Eigene kaum hinaus geht.

Sprache des Hasses: Wo bleibt die Literatur?

Regelrecht unverzeihlich ist für mich aber, dass die österreichische Literatur sich stets als versierte Mahnerin radikalisierter Sprachformen begriff, seit 2020 jedoch in der gewalttätigen Sprache der Öffentlichkeit keinerlei Problem sah. Ungeachtet dessen, wie man zu Impfung und dgl. steht, musste man als sprachlich sensibler Mensch bemerkt haben, wie hier etwas völlig entgleiste, und zwar im öffentlichen Diskurs etablierter Medien. Dies thematisiert auch der offene Brief im Februar:

Wenn die Sprache der Öffentlichkeit zu einer Sprache des Autoritären, zu einer Sprache der Ausgrenzung, zu einer Sprache des Hasses wird, dann muss die Literatur einschreiten und darauf aufmerksam machen.

Insbesondere dann, wenn sich eben jene Literaturszene weitgehend darauf beruft, gegen Diskriminierung, Hate-Speech und Hass im Netz aufzutreten, ist es ihre Aufgabe, Theorie und Praxis im entscheidenden Moment einer Krise zu verbinden und auf das Entschiedenste gegen solche Entwicklungen zu intervenieren.

Aus dem offenen Brief

Der Befund des Autors ist heute wie schon vor einem halben Jahr derselbe: Diese literarische Intervention ist nicht geschehen.

Jan David Zimmermann (*1988 in Wien) ist Schriftsteller, Wissenschaftsphilosoph und Blogger. Journalistische Veröffentlichungen u.a. in der Presse, Cicero und Berliner Zeitung. 2022 erschien seine Novelle "Den Schatten im Rücken" im Sisyphus-Verlag.

Weiterführende Links

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