Abarbeiten an Heimat und Geschichte
- Abarbeiten an Heimat und Geschichte
- Sprachlosigkeit und Vorgestrigkeit
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Anti-Heimat ist auch Heimat: Zur Vorgestrigkeit österreichischer Gegenwartsliteratur. Ein Kommentar.
Die österreichische Hochliteratur nach 1945 ist vielfach ob ihrer philosophischen Sprachverliebtheit, aufgrund ihres kritischen Umgangs mit dem, was in der Regel als "Heimat" bezeichnet wird und mit einer kompromisslosen Aufarbeitung und Thematisierung von Österreichs NS-Vergangenheit (und der Ablehnung der Opferthese) bekannt geworden.
Mit den Büchern etwa von Thomas Bernhard ("Frost", 1963), Elfriede Jelinek ("Die Kinder der Toten", 1996), Franz Innerhofer ("Schöne Tage",1974) und vielen anderen hat sich von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart eine sprachmächtige Tradition der Anti-Heimat-Literatur etabliert, die gerade in ihren ersten Ausprägungen ohne Frage zur Weltliteratur zählt.
Die Schreibenden traten dem Schweigen der Nachkriegszeit in Form eines Sezierens der und ein Gehen in die Sprache entgegen, vielfach auch in Anlehnung an Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie. Wittgensteins Satz "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt" wurde literarisch dadurch verarbeitet, indem man den Finger in die Wunde legte und jene Dinge benannte, die die Gesellschaft versuchte zu verdrängen und so durch Sprache die Grenzen der Welt erweiterte.
Die Schriftsteller dieser Generation kritisierten völkische und nationalsozialistische Tendenzen der Gesellschaft ebenso wie die übermäßige Sozialisation der Bevölkerung im Katholizismus und konzentrierten sich in ihren Schilderungen vielfach auf das ländliche (bäuerliche) Österreich.
Auch der mittlerweile fast in Vergessenheit gerate Roman "Die Wolfshaut" (1960) von Hans Lebert arbeitete sich an dem dörflichen Schweigen über den Zweiten Weltkrieg ab. Thomas Bernhards Stück "Heldenplatz" – jener Platz in Wien, wo Hitler nach dem "Anschluss" Österreichs seine Rede hielt – sorgte 1988 für einen Skandal, inmitten der Nachwehen der Waldheim-Affäre.
Berechtigterweise wiesen viele Schriftsteller und Intellektuelle darauf hin, wie lange in Politik, Wissenschaft und Recht oder grundsätzlich in der Gesellschaft eine Kontinuität von ehemaligen Nationalsozialisten herrschte, die ungebrochen weiterforschten, weiter Gutachten ausstellten, weiter Staatspreise bekamen, wobei der Fokus der Kritik stark auf der Landbevölkerung blieb.
Wenngleich all diese Kritik mehr als berechtigt erschien, so kam die österreichische Hochliteratur nie ganz aus diesem (mittlerweile ertragreichen) Fahrwasser heraus und was von den 1960er bis 1990er-Jahren nachvollziehbar und wichtig erschien, wirkt gegenwärtig wie ein vergangenheitsversessenes Treten auf der Stelle, ein Aufenthalt in einer Zeitkapsel.
Die Anti-Heimat hat zudem die Heimat im Namen und die wütende Beschäftigung mit dem Eigenen zeigt vor allem die Erfolgsgeschichte der österreichischen Nationenbildung ab der Ausrufung der Zweiten Republik Österreichs. Provokant formuliert: Die Literaten nach 1955 gingen vielfach einer sich von der NS-Deutschtümelei abgrenzen wollenden Erschaffung einer österreichischen Identität derart auf den Leim, dass bis heute diese Beschäftigung mit der Anti-Heimat eine manierierte und ungebrochene Tradition ist.
Es hat auch ein wenig von Selbst-Geißelung in einer kühnen Verquickung von Sadomasochismus und Katholizismus bei stetem Hass auf Provinz, Lederhosen und Almromantik; hier wird literarisch stets aufs Neue ein Bild Österreichs reproduziert, das am Ende ebenso klischeehaft ist wie jenes stereotype Österreich, das im internationalen Tourismus bemüht wird.
Die wirkliche Unzulänglichkeit der Antiheimatattitüde ist mir jedoch in den letzten zweieinhalb Jahren aufgefallen und hat für mich klargemacht, was es ist: eben reine Attitüde, reine Pose und ein zombiehaftes Vorbeischreiben am Lebendigen, an den Menschen selbst. Dabei wirkt mancherlei Literatur ebenso vorgestrig wie die kritisierte Vorgestrigkeit der Rechten.
Ja, mehr noch; die ständige Versessenheit auf den Nationalsozialismus, das ständige Betonen der Gefährlichkeit der Rechtsextremen und der bösen Provinz führte in eine ideologische Verbohrtheit, wonach das Autoritäre, das in einem anderen Gewand als im völkischen daherkommt, nicht als Autoritäres, sondern als Notwendigkeit empfunden wird und ein Wehret den Anfängen unmöglich macht, so es sich nicht um rechte Gruppierungen handelt.
Literatur und Corona
Denn die österreichische Literatur hat eines nicht geschafft: kritisch und klar (entweder literarisch oder in Interviews) auf die demokratiepolitischen und gesellschaftlichen Verwerfungen der Corona-Krise zu reagieren, sondern es kam ganz anders. Der Aufschrei aus der Literatur blieb weitgehend aus. Keines der moralisch-literarischen Aushängeschilder hat sich in klarer Sprache gegen die sprachliche und räumliche Ausgrenzung ungeimpfter Mitbürger (darunter Freunde und Kollegen) und gegen die überbordend kafkaesken Maßnahmen, die sich im Wochentakt änderten, ausgesprochen.
Im besten Fall gab es noch bittere Kommentare zu Beginn der Pandemie (Lockdown-Isolation, Ischgl und Gewichtszunahmen), als die Ideologisierung des Gesundheitsthemas noch nicht ganz so fortgeschritten war wie in den Jahren 2021 und 2022.
Doch danach hat man geschwiegen oder die 2-G-Regelungen, die monatelang, in Österreich (und vor allem in Wien) von November 2021 bis April 2022 den öffentlichen Raum prägten und ein Drittel der Gesellschaft aus dem öffentlichen, insbesondere auch aus dem kulturellen Leben, aus literarischen Institutionen und Veranstaltungen verbannte, sogar mit einem regelrecht erotisch motiviert anmutenden Regel-Fetisch affirmiert. Im schlimmsten Fall haben Schreibende sogar die eskalierte Sprechweise aus Medien und Politik übernommen oder als richtig empfunden, wie der Autor an anderer Stelle schon einmal dargestellt hat.
Der Autor hat all dies sehr klar und deutlich in einem offenen Brief an die Organisatoren des Ingeborg-Bachmann-Preises kritisiert, weil er nicht fassen konnte, dass eine literarische Veranstaltung völlig übereifrig die 2G+-Regel einführt, wie es in der Ausschreibung stand.
Der Brief, zugegeben scharf und kompromisslos formuliert, hat Wellen geschlagen, wurde allein auf der Homepage des Autors 35.000 Mal angesehen, auf Social Media geteilt, von der Presse aufgegriffen und sprach offenbar vielen Menschen aus der Seele.
Überrascht von der Resonanz wurde dem Autor bewusst, wie viele Menschen eine Stimme aus Literatur und Kunst hören wollten, die sich gegen die gesellschaftlichen Entwicklungen positioniert, die uns seit über zwei Jahren heimsuchen. Es zeigt sich, dass die Menschen sehr wohl eine Literatur, eine Kultur haben wollen, die sich inmitten der Gesellschaft befindet und nicht in einer abgeriegelten Blase, die vor allem für sich selbst schreibt.
Die Adressaten des Briefes, die Organisatoren des Wettlesens in Klagenfurt, aber auch die Schreibenden selbst haben nicht auf die Kritik reagiert und sich mit den Argumenten auseinandergesetzt. Sind Schweigen und Ignorieren sind nur moralische Verfehlungen, wenn sie von den "Nazis" am Land kommen?