"Aber ORDNUNG hat da geherrscht!"

Seite 2: Unsicherheit und Ordnung

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Kommunikationssoziologisch gehören Unsicherheit und Ordnung eng zusammen. Seit den 1960er Jahren haben die Ethnomethodologen um Harold Garfinkel gezeigt, dass eine soziale Ordnung dann entsteht, wenn die Handlungen von Personen erwartbar aufeinander folgen.

Im einfachsten Fall passiert das schon, wenn auf eine Äußerung von A eine erwartbare Reaktion von B folgt. Auf eine höfliche Frage nach der Uhrzeit kann man eine Antwort erwarten; bleibt die Antwort aus, entsteht Unsicherheit, da die Erwartung enttäuscht wurde. Unsicherheit meint hier nicht nur das Empfinden von Unsicherheit in einem psychologischen Sinne (obwohl auch das auf jeden Fall ernst zu nehmen ist); unsicher ist hier vor allem, wie es nun weitergeht: Wiederholt man die Frage, um die Aufmerksamkeit des anderen zu erhalten und die soziale Ordnung doch noch sicherzustellen? Oder lässt man die Situation offen und geht weiter? Tut man letzteres achselzuckend und fragt einfach die nächste Person, oder kommt man ins Grübeln und fragt sich, ob man etwas falsch gemacht hat?

Mit der ethnomethodologischen Forschung kann man zeigen, dass Kommunikationsstörungen und Konflikte dann entstehen, wenn Unsicherheit hinsichtlich der nächsten erwartbaren Handlungen besteht, wenn erwartbare Handlungen nicht eingetreten sind, und wenn man nicht weiß, wie man mit der unsicheren Situation umgehen soll.

Das Besondere an der heute zu beobachtenden Gesellschaft ist, dass es viel schwieriger ist als früher, sichere Erwartungen aufzubauen. Immer wieder wurde in den letzten fünfzehn Jahren von Seiten der Soziologie oder der Philosophie darauf hingewiesen, dass früher genutzte Sicherungsinstanzen heute weniger oder keine Gültigkeit mehr besitzen (dazu mehr im nächsten Abschnitt). Zurzeit kann jeder selbst prüfen, wie praxistauglich solche Thesen sind.

Politik, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft, Massenmedien - die etablierten Formen dieser Systeme werden heute zunehmend hinterfragt und ihnen werden Alternativen entgegengestellt. Die Funktion solcher Alternativen ist es, andere Erwartungshorizonte zu ermöglichen. Für die Einzelperson, die sich Unsicherheit ausgesetzt sieht, kann der Aufbau anderer als der etablierten Erwartungen zumindest kurzfristig Ordnung sichern.

Wenn man z.B. den Eindruck hat, die etablierten Parteien oder Medien würden die eigenen Ängste nicht ernstnehmen, dann kann man diese Unsicherheit bearbeiten, indem man sich Instanzen zuwendet, die das scheinbar tun. Dass man sich mit dieser Sicherungsstrategie mittelfristig unter Umständen weitere Unsicherheiten einhandelt, die auf ganz anderen Ebenen Ordnungen gefährden, ist in dem Moment zweitranging (und würde man innehalten und sich selbst hinterfragen, ginge man der gerade erst gefundenen Ordnung wieder verlustig).

Das alles ist nicht grundsätzlich neu. Manchmal wird z.B. in Leserkommentaren auf aktuelle Ähnlichkeiten zu den späten 1920er, frühen 1930er Jahren hingewiesen. Auch diese Zeit wurde als sehr unsicher erlebt, und dort wurde sich ebenfalls alternativen Ordnungsmodellen zugewandt. Neu sind heute aber erstens die Vielfalt alternativer Angebote und zweitens die Eindringlichkeit, mit der diese auf sich aufmerksam machen. Dabei unterstützt natürlich auch, dass sich etablierte Systeme teils deutlich zur Wehr setzen.

Wenn Sigmar Gabriel von "Pack" spricht oder wenn Tagesschau-Chef Kai Gniffke im Tagesschau-Blog immer wieder die Art der Berichterstattung seiner Sendung verteidigen muss (wie gegen Vorwürfe Horst Seehofers), dann sind das Abgrenzungsprozesse, bei denen etablierte gesellschaftliche Teilsysteme versuchen, ihre eigene Stabilität zu bewahren - auch hier also Versuche, mit wahrgenommener Unsicherheit umzugehen.