"Aber ORDNUNG hat da geherrscht!"

Seite 4: Ordnung als das Aushalten von Unsicherheit

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In der medialen Verarbeitung des Zugunglücks von Bad Aibling wurde sehr schnell auf das Zusammenspiel von Mensch und Technik hingewiesen. Wenn es sich um menschliches Versagen handelte, hätte das nicht durch Technik verhindert werden können?

Ähnlich bei Flugzeugunglücken wie Flug MH370 - damals wurde über die Deaktivierbarkeit des Transponders von Flugzeugen durch die Piloten diskutiert. Und im Fall des Verschlüsselungstrojaners Locky wird unter anderem im Heise-Forum von mehreren Nutzern darauf hingewiesen, dass man unerwartete E-Mail-Anhänge einfach nicht zu öffnen habe, dass Dateiendungen in Windows eingeblendet sein müssen und dass man Mitarbeiter in Unternehmen besser schulen und nötigenfalls sanktionieren müsse, wenn sie gefährliche Anhänge öffnen.

Allen Beispielen ist gemein, dass sie auf Kontrolle von Unsicherheit setzen. Und tatsächlich ist etwa die Luftfahrt in den letzten Jahrzehnten weit sicherer geworden, weil sehr viele Möglichkeiten menschlichen und technischen Versagens mittlerweile ausgeschlossen sind. Die zunehmende Automatisierung hat daran großen Anteil, und obwohl sie auch selbst Probleme bereiten kann, wäre es verkehrt, auf sie verzichten.

Damit gilt aber weiterhin, dass vollständige Kontrolle nicht umsetzbar ist, gerade weil die Technik, die Unsicherheit kontrollieren kann, selbst neue Unsicherheiten erzeugt. Man weiß eben oft nicht, wie genau die Technik hilft; so muss man ihr und ihren Entwicklern teils blind vertrauen. Will man die deutlichen Vorteile komplexer Technik nicht aufgeben, dann muss man entweder selbst zum Experten für solche Technik werden, oder man muss mit dieser Unsicherheit leben lernen.

Übertrüge man das Leben mit Unsicherheit auf die Computergesellschaft, dann wäre Ordnung in der Computergesellschaft kein statischer Idealzustand mehr, der durch das Einhalten genau definierter und möglichst unveränderlicher Regeln erreichbar wäre. Dass dies ohnehin eine Illusion ist, hat die bereits erwähnte Ethnomethodologie in langjährigen Arbeiten u.a. zu Plänen, Regeln, Checklisten und auch Techniknutzung gezeigt.3

Während Regeln zwar einen gewissen Ordnungsrahmen abstecken können, bleibt die spezifische Ausgestaltung der jeweiligen Ordnung doch situationsabhängig. Nicht umsonst kommen z.B. Gerichte unter Anwendung der gleichen Gesetze auf ähnliche Fälle zu durchaus unterschiedlichen Urteilen - das hat dann nichts mit Willkür oder falscher Interpretation zu tun, sondern ist in der Funktionsweise von Regeln für die Entstehung einer Ordnung angelegt.

Nehmen wir an, dass Baeckers Thesen, Willkes Einschätzungen und Seeßlens Beobachtungen zutreffen (zahlreiche Alltagsbeispiele sprechen zumindest dafür), dann scheint es geboten, die Relativität und damit auch die zeitweise mögliche Machtlosigkeit ordnungsstiftender Instanzen anzuerkennen, ohne dabei Untergangsängsten zu verfallen.

Das ist zunächst erschreckend. Denn wie kann man dann überhaupt handlungsfähig bleiben? Möglicherweise durch eine Fähigkeit, auf die wiederum Dirk Baecker hinweist: die Fähigkeit zur Reflexion und durch die Beschäftigung mit der individuellen Reflexionsgeschichte.4 Dabei verstehe ich Baecker so, dass Unsicherheit uns zwingt, Entscheidungen zu treffen, auch wenn wir nicht wissen, zu welchem Endergebnis diese Entscheidungen führen werden. Indem wir aber darüber reflektieren, wird uns bewusst, dass wir bereits früher eine ganze Reihe unsicherer Situationen erfolgreich bearbeitet haben. Dieses Bewusstsein kann zumindest auf individueller Ebene zu Sicherheit führen: "Auch diesmal wird es eine Lösung geben."

Anstatt, wie in Baeckers oben zitierter These, der Sehnsucht nach einer möglichst unveränderlichen idealen Ordnung anzuhängen, zu der man gehören will, ist die Bereitschaft nötig, auch die eigenen Ziele, Vorstellungen und Erwartungen ständig zu hinterfragen, neue Lebensentwürfe auszuprobieren und von außen herangetragene neue Faktoren in den aktuellen Entwurf zu integrieren.

Helfen könnten bei der Bewältigung dieser dauernden Komplexität Computer - nicht, indem man immer noch dem alten Microsoft-Slogan der "information at your fingertips" anhängt, sondern indem wir Computer nutzen, unsere individuelle Reflexionsgeschichte zu verwalten und zu ordnen. Damit dies glücken kann, müssen auch der eigene Umgang mit Computern, ihre sozio-kulturelle Verortung und auch Aspekte ihrer Funktionsweise zu Objekten unserer Reflexion werden. Insbesondere diese Forderung jedoch dürfte für viele Menschen zurzeit noch sehr abwegig sein - denn schließlich soll die Technik doch einfach nur funktionieren.

Mario Donick arbeitet für ein Telekommunikationsunternehmen, ist freiberuflich als Autor und Entwickler im Bereich Flugsimulation tätig und arbeitet zudem als freier Kommunikationswissenschaftler. Zuletzt erschien 2016 seine Dissertation zum Thema "Unsicherheit und Ordnung der Computernutzung".