Perspektive des Ukraine-Krieges: Was wir von 1962 lernen können
Falscheinschätzung des Gegners und Fehlentscheidungen stellen ein enormes Risiko dar. Was der Blick in die Geschichte zeigt. (Teil 2 und Schluss)
Im ersten Teil dieses Beitrags ging es um eine "üble Verzerrung" einer Aussage des Kanzlers im Boulevardblatt Bild. Der Kanzler hatte 2022 erklärt, dass die Ukraine in den nächsten 30 Jahren nicht Mitglied der Nato werden würde, um russische Besorgnisse zu adressieren. Diese Aussage wurde im aktuellen Kontext neu diskutiert, wobei die Debatte über die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sich verändert hat, aber derzeit nicht geführt wird, wie der Regierungssprecher erklärte.
Die USA und die Allianz hielten die Option einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine offen, um strategische Ziele gegen Russland zu verfolgen, ohne eine direkte militärische Konfrontation zu riskieren. Dies führte zu Spannungen und Vermutungen über eine strategische Manipulation zulasten der Ukraine. Präsident Selenskyj äußerte Verdacht auf Betrug und warf dem Westen vor, nicht vollständig mit Russland gebrochen zu haben, was zu einer Eskalation und Unsicherheiten in der Region beiträgt.
In einem Beitrag über das Geschehen in der Ukraine mokierte sich die New York Times über die angebliche Unfähigkeit des russischen Militärs im Feldzug gegen die Ukraine. Der NYT-Artikel enthüllte auch, woran das lag: Der damalige militärische Stabschef der USA, Mark Milley, glaubte – und er war in diesem Glauben nicht allein – Russland werde innerhalb von drei Tagen die Ukraine überrennen.
General Milleys Gesinnungswandel
Als das nicht geschah, dachte Milley (und nicht nur er), die Russen seien unfähig zur "richtigen" Kriegsführung, also dazu, wie sie selbst agiert hätten. Im Herbst 2022 besann sich Milley und redete Verhandlungen das Wort. Das führte allerdings zu Ärger mit dem Weißen Haus, und in der Folge war Milley wieder "auf Linie".
Die Gefahren dieser Entwicklung werden unterschätzt. Im Artikel in Foreign Policy, den ich im ersten Teil erwähne und der die Kuba-Krise des Jahres 1962 rekonstruiert, wird nicht erwähnt, warum die Situation um Kuba damals plötzlich so brandgefährlich einem Atomkrieg nahekam.
Was 1962 auf sowjetischen Atom-U-Booten geschah
Das beschrieb der US-Whistleblower Daniel Ellsberg: Die USA wussten damals nicht alles, und die sowjetische Seite hatte auch auf Kuba nicht alles unter Kontrolle.
Daher wurde Chruschtschow regelrecht panisch, als er erkannte, wie nahe plötzlich ein ungewollter atomarer Schlagabtausch war. Er wollte nicht die Verantwortung für einen Atomkrieg tragen. Kein Problem sei es wert, dass dafür die Welt geopfert würde. Kennedy hat gewiss das Gleiche gedacht, denn sonst wäre damals die Verständigung nicht gelungen.
Überdies lagen damals vor den US-Küsten mit Atomwaffen bestückte sowjetische U-Boote, die im Fall eines Beschusses (den es gab), die Entscheidungsgewalt darüber hatten, ob sie mit Atomwaffen vergelten. Ellsberg beschrieb, welche glücklichen Umstände auf den sowjetischen U-Booten dazu führten, dass keine Atomraketen abgefeuert wurden, denn dort brauchte es nur das Votum zweier Menschen.
Durch Zufall die welt gerettet
Auf einem U-Boot war einer dafür, einer dagegen, eine Atomwaffe abzufeuern. Auf dem anderen Schiff waren beide Entscheidungsträger dafür, aber ein zufällig anwesender ranghöherer Politoffizier aus Moskau legte sein Veto ein. Erst in der Folge der Kuba-Krise wurde die Entscheidungsgewalt über den Einsatz von Nuklearwaffen zentralisiert.
Im Foreign Affairs-Artikel gibt es ein Detail, das mir bisher nicht bekannt war. Kubas Revolutionsführer Fidel Castro forderte die Sowjetunion zu einem präventiven Atomschlag auf die USA auf, um einer drohenden US-Invasion zuvorzukommen. Chruschtschow soll vor Wut über so viel Unvernunft getobt haben.
Wie schade, dachte ich, dass erst in Jahrzehnten, wenn überhaupt, bekannt werden wird, welche Stimmungslage im Weißen Haus herrschte, als Selenskyj öffentlich im Herbst 2022 nach einem atomaren Erstschlag der Nato auf Russland rief. Ich vermute, Biden oder seine engsten Berater verhielten sich ähnlich wie einst der Kreml-Chef.
Tickt Putin wie Chruschtschow?
Dieser Frage widmeten sich in der Vergangenheit mehrere US-Publikationen.
Niemand fragt, ob Biden wie Kennedy tickt.
Niemand fragt, wie Selenskyj tickt.
David Ignatius von der Washington Post bezweifelte 2022 jede Ähnlichkeit zwischen Putin und Chruschtschow. In dessen Artikel ist allerdings die Kuba-Krise schöngefärbt: Chruschtschow hätte sie (angeblich) angefangen, dann aber benahm er sich einsichtig und verantwortlich.
Bei Ignatius fehlt auch völlig der Hinweis darauf, dass es nach der Kuba-Krise zum Abkommen über den Stopp atomarer Tests kam, das auch die alte Bundesrepublik unterschrieb.
Das war der erste Schritt auf dem Weg zum Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen.
Das alles liegt schon so lange zurück, sodass kaum einer weiß, dass die Möglichkeit einer atomaren Bewaffnung der alten Bundesrepublik sowohl in Moskau als auch in Washington damals Befürchtungen auslöste.
Atomwaffen und Vertrauen in Deutschland
Förmlich hatte Adenauer zwar 1954 zugesichert, dass Deutschland nicht danach greifen würde, aber tatsächlich spukte diese Option in den Hinterköpfen einiger deutscher Politiker herum. Entsprechende Forschungen wurden auch vorangetrieben.
Wer also heute in Deutschland laut über eigene deutsche oder europäische Atomwaffen nachdenkt, sticht in ein historisches Wespennest, das nicht völlig verlassen ist und beschädigt das Vertrauen in unser Land auf das Schwerste.
Ignatius kam in der Washington Post zum Schluss, Putin wäre nicht wie Chruschtschow und zitierte dazu aus einem Schreiben von Kennedys Witwe an Chruschtschow:
Die Gefahr, die meinen Mann beunruhigte, bestand darin, dass ein Krieg nicht so sehr von den großen Männern als vielmehr von den kleinen Männern angezettelt werden könnte. Während große Männer wissen, wie wichtig Selbstbeherrschung und Zurückhaltung sind, werden kleine Männer manchmal eher von Angst und Stolz angetrieben.
Ignatius fand, dass letzteres auf Putin zutreffe.
Auch die Autoren in Foreign Policy bezweifelten, dass Putin das Format eines Chruschtschow hätte. Sie verwendeten dazu eine Aussage, die Putin im Jahr 2018 traf, schrieben sie aber inhaltlich etwas um.
Putin sagte damals in einem Interview:
Wenn jemand beschließt, Russland zu vernichten, haben wir das Recht, darauf zu reagieren. Ja, das wäre eine Katastrophe für die Menschheit und für die Welt. Aber ich bin ein Bürger Russlands und sein Staatsoberhaupt. Wozu benötigen wir eine Welt ohne Russland?
Tatsächlich entspricht die damals gewählte Formulierung exakt der russischen Nukleardoktrin. Droht die Vernichtung Russlands, ist der Einsatz von Nuklearwaffen zulässig. Das zeigt den ganzen Irrsinn der gewählten US-Strategie.
Russland herausfordern
Einerseits soll kein Atomkrieg stattfinden, andererseits soll Russland exakt in die Lage gebracht werden, die den Einsatz von Nuklearwaffen legitimieren würde. Glücklicherweise haben bisher weder Sanktionen noch Kriegsführung Russland in diese Ecke getrieben. Es ist – im Gegenteil – politisch und militärisch gestärkt. Aber sicher ist nichts, nicht im Krieg.
Anders als Liz Truss, die 2022 völlig emotionslos erklärte, dass sie als Premierministerin den berühmten roten Knopf drücken würde – im Fall des Falles –, sprach Putin 2018 klar von einem Vergeltungsfall und über die Katastrophe, die das wäre.
Stete Erinnerung an Atomwaffen
Seit Beginn der russischen Aggression erinnert er jedoch regelmäßig daran, dass Russland über Atomwaffen verfügt. Ist das nun unverantwortliche nukleare Eskalation, wie immer behauptet wird, oder ein Indiz für die Situation, in der wir uns heute befinden? Meines Erachtens liegt es auf der Hand, dass es heute noch sehr viel gefährlicher ist als damals zu Zeiten der Kuba-Krise.
Es gibt keine geheime direkte Leitung zwischen den Anführern von Atommächten, keine vertraulichen Unterhändler. Es regiert nur Misstrauen, Sprachlosigkeit, regelrecht personalisierter Hass (in dem Fall auf Putin) und viele Spekulationen über wechselseitige Intentionen und ein Was-wäre-wenn.
Geschichts- und Realitätsverlust
Im Westen, einschließlich der EU, einschließlich Deutschland dominieren Geschichts- und Realitätsverlust.
US-Präsidenten kämen nie auf die Idee, die russischen Nato-Besorgnisse als "absurd" zu bezeichnen. Die USA haben eine klare Vorstellung davon, dass sie weltweit bestimmen, wo es langgeht und alle hinterherzutraben haben.
Dass das dann regelmäßig im Desaster endet, wirkt leider nicht abschreckend. Die Römer waren insofern definitiv klüger. Als die im Schlamm des Teutoburger Waldes feststeckten, ließen sie das Unterfangen, die germanischen Stämme auch noch beherrschen zu wollen.
Vom Teutoburger Wald bis Kiew
Zugleich gibt es ein Gefühl der eigenen Verwundbarkeit durch innere und äußere "Feinde", das andauernd hochgezüchtet wird. Man denke an den schönen Garten, immer durch den Dschungel bedroht … Das geht Hand in Hand mit immer mehr kriegsähnlichen Erklärungen gegenüber Russland. Ist das alles nur Bluff? Nur propagandistisches Blendwerk? Nur der unbändige Wille, sich zu profilieren? Von den Kriegslügen will ich gar nicht reden.
Die kriegerischen Posen nehmen jedenfalls an Lautstärke zu. Sind wir nun schon im direkten Krieg mit Russland oder nur fast? Und was macht das mit dem Klima in unserem Land?
Wohin geht die Reise?
Dass die EU sich jüngst militarisieren will, ist ein verhängnisvoller Fehler. Sie ist jetzt schon schwächer als die USA. Wo soll das politisch, wirtschaftlich und sozial hinführen, wenn die US-Orientierung auch noch imitiert wird?
In den USA ist es für die Bevölkerungsmehrheit nicht gut ausgegangen. Dort regiert eine Oligarchie, der Sicherheitsapparat wird immer einflussreicher, die Grundfreiheiten bröckeln und die sozialen Bande sind sehr brüchig geworden. Anders als in den USA gibt es bei uns keine billigen Rohstoffe, und die billige Energie ist auch Vergangenheit. Und schließlich ist die Nato auch der Marktplatz für US-Produkte.
Was glauben wir also, wird in der EU und mit der EU geschehen? Was mit unserem Land?