Russland und der Westen: Vom Taumeln am Abgrund

Satellitenaufnahme vom Hafen in Kuba, 1962, schwarz weiß

US-Aufklärungsfoto vom Hafen Mariel, Kuba, 8. November 1962. Bild: Everett Collection, Shutterstock.com

Zur Haltung Russlands gegenüber der Nato. Zu der Ukraine-Strategie Washingtons. Und über die Kuba-Krise sowie ihre Lehren. Ein Gastbeitrag. (Teil 1)

Das Boulevardblatt Bild schrieb über eine "üble Verzerrung" einer Aussage des Kanzlers in einem Bürgerdialog, wonach die Ukraine in den nächsten 30 Jahren nicht Nato-Mitglied werden würde.

Das hätte er schon 2022 gesagt, in Beantwortung der "absurden" Besorgnisse auf russischer Seite. Der Regierungssprecher fügte hinzu: Die weitere Entwicklung über eine "mögliche Aufnahme der Ukraine in die Nato" sei inzwischen "eine ganz andere Diskussion", die zwar aktuell "nicht geführt wird" – aber wenn, dann unter völlig anderen Vorzeichen als vor Kriegsbeginn.

Es ist vollkommen korrekt, dass der Bundeskanzler am 14./15. Februar 2022 in Kiew und Moskau öffentlich erklärte, ein Nato-Beitritt der Ukraine stünde nicht auf der Tagesordnung.

In Kiew widersprach ihm Präsident Wolodymyr Selenskyj: "Von uns gibt es aber kein Signal, dass die Nato-Mitgliedschaft nicht auf der Tagesordnung steht … Dieses Signal kommt nicht von uns, sondern von den Leadern anderer Staaten."

Ukraine in der Nato? Die Frage stellt sich nicht!

In Moskau widersprach ihm Putin: "Wir bekommen zu hören, dass die Ukraine nicht reif für eine Nato-Mitgliedschaft sei. Wir kennen diese These. Wann wird sie denn aufgenommen? Es heißt, wenn sie darauf vorbereitet ist, und dann kann es schon zu spät für uns sein. Deshalb wollen wir diese Frage jetzt lösen …"

Diese Frage war Gegenstand des Nato-Russland-Rates am 12. Januar 2022. Sie wurde "selbstverständlich" nicht gelöst.

Warum erklärte der Bundeskanzler 2022, die Frage einer Ukraine-Mitgliedschaft in der Nato stelle sich aktuell und womöglich auch in 30 Jahren nicht, statt sich eindeutig gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine zu positionieren? Damit hätte er doch den "absurden" russischen Besorgnissen den Wind aus den Segeln genommen.

USA nutzen Ukraine gegen Russland

Die Antwort, die niemand wissen will, ist ganz einfach: Weil die USA, also die Nato, wegen der Ukraine nicht das Risiko einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland eingehen wollten, aber gleichzeitig die Ukraine benötigten, um gegen Russland vorzugehen, um es strategisch zu schwächen, wenn nicht gar zu "ruinieren". Also hielt und hält man die Option einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine offen, um sich dort ungestört zu tummeln, geheimdienstlich und militärisch.

Auch das legt ein Artikel der New York Times offen, der Anfang 2024 speziell über die Operation "Goldfisch" berichtete, sprich, zu welchem Paradies die Ukraine für die CIA nach dem Maidan wurde. Angeblich war die Ukraine seit mehr als 10 Jahren der "wichtigste Geheimdienstpartner" der CIA, wenn es um Russland ging. Die CIA hat dort zwölf Basen.

Seit dem Gespräch zwischen Biden und Putin am 7. Dezember 2021 ist die komplette Strategie offensichtlich, berichtete auch das US-Magazin Politico.

Die Strategie der USA

Erstens: Biden warnte Putin eindringlich vor einer Invasion der Ukraine und kündigte massive Konsequenzen an (schwerste wirtschaftliche Sanktionen, Waffenlieferungen an die Ukraine, womöglich mehr US-Truppen in Europa).

Zweitens: Biden erklärte, es gäbe auch eine "gute" Nachricht, etwas Grund zu Optimismus. Es sei verabredet worden, über die russischen Besorgnisse in Bezug auf die Nato zu reden.

Jake Sullivan, sein Sicherheitsberater, präzisierte gegenüber der Presse, dass weder die militärische Positionierung der USA in Europa noch eine potenzielle Nato-Mitgliedschaft der Ukraine verhandelbar sei. ("Biden also made no commitments or concessions on NATO regarding a reduced U.S. presence or Ukraine’s potential membership, Sullivan said.")

Drittens: Biden schloss eine direkte militärische Involvierung der USA gegen Russland aus. Die USA werden Nato-Territorium verteidigen, das sei ihre "heilige" Pflicht. Die Ukraine sei nicht Nato-Mitglied.

Der Mann im Kreml hat verstanden

Auf die Frage einer Journalistin, ob er glaube, dass Putin die US-Position völlig verstanden habe, antwortete Biden eindeutig: Ja, unbedingt ("he got the message"). Von wegen, dass im Kreml einer säße, der nicht zwei und zwei addieren kann.

An dieser US-Strategie ist Deutschland aktiv beteiligt

- durch die Teilnahme an den Sanktionen,

- durch Waffenlieferungen und Geldtransfers an die Ukraine,

- durch die Verweigerung ernsthafter Gespräche mit Russland über dessen Sicherheitsansprüche,

- durch die Unterstützung einer militärischen Lösung ("Siegfrieden").

Dabei bleibt die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato im Vagen, weil sonst eine direkte militärische Konfrontation zwischen den USA/der Nato und Russland unvermeidlich ist.

Kurzum: Es ist ein Stellvertreterkrieg, bei dem die USA/die Nato glauben, die besseren Karten zu haben und der Ukraine ihre "unverbrüchliche" Solidarität versichern.

Ukraine-Ernüchterung 2024

Nun, 2024, ist der Katzenjammer groß. Nichts läuft, wie geplant, und die Realität lässt sich nicht mehr komplett verleugnen. Der Economist fragte schon im April, was passiere, wenn die Ukraine verlöre: "Ein russischer Sieg würde den Westen schwächen und ganz besonders Europa." Auf Facebook lautete die Artikelzusammenfassung so:

Eine Niederlage der Ukraine wäre eine demütigende Episode für den Westen, ein moderner "Suez-Moment." Amerika und Europa haben – vielleicht unabsichtlich – ihre eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt.

Nicht zum ersten und ganz sicher auch nicht zum letzten Mal spielt in solchen Artikeln die Ukraine keine Rolle. Die ist nur der Stellvertreterkrieger. Was mit ihr passiert, wie viel dort gestorben wird, interessiert nicht. Unsere "Demütigung" zählt.

In einem jüngsten Interview mit der New York Times beschwerte sich der Stellvertreterkrieger Selenskyj über so manches. Er erhob den Vorwurf des Betrugs an der Ukraine.

Selenskyjs Verdacht

Die Ukrajinska Prawda griff ihn auf. Selenskyj äußerte den Verdacht, dass entweder Putin ein "inadäquater" Mensch sei oder es Absprachen bis zu einer Verständigung zulasten der Ukraine vor der russischen Invasion 2022 gegeben haben könnte. Letzteres wäre ein "Betrug" an der Ukraine. Das wolle er sich gar nicht vorstellen.

Er warf gleichzeitig dem Westen vor, immer noch Beziehungen mit Russland zu unterhalten. Nichts wäre komplett abgebrochen, weder der Handel noch die diplomatischen Beziehungen. Alle hätten noch eine Botschaft in Russland.

Laut Selenskyj halte man sich so die Tür noch ein wenig für den Fall einer ukrainischen Niederlage offen. Außerdem rechnete Selenskyj, und das ist der erbarmungswürdige Teil des Interviews, vor, wie die militärischen Kräfteverhältnisse zwischen Russland und der Ukraine tatsächlich sind (jedenfalls beispielhaft).

Ukraine im Nachteil

Weder bei den Flugzeugen noch der Flugabwehr kann die Ukraine mithalten. Der Westen solle doch wenigstens ein wenig schicken und der Ukraine erlauben, mit westlichen Waffen nun tiefe Schläge in Russland auszuführen. Der Westen solle alles abschießen, was über ukrainischem Himmel fliegt. Wo ist das Problem? Putin werde schon keinen Nuklearkrieg anzetteln. Der sei nicht lebensmüde.

Man sollte sich immer daran erinnern, wie Carl Sagan, der den nuklearen Winter erforschte, den atomaren Rüstungswettlauf zu Zeiten des Kalten Krieges beschrieb: Zwei tief verfeindete Menschen stehen bis zur Hüfte in einem mit Benzin gefüllten Becken, und beide haben Streichhölzer in der Hand, einer fünf und einer drei.

Wenn sich – um das Bild von Sagan aufzugreifen – auch nur eines der Streichhölzer entzündet, versehentlich oder absichtlich, ist das Ergebnis so sicher wie das Amen in der Kirche. Beide werden sterben.

Leider reicht in der Realität das Benzinbecken über den ganzen Globus, und es verbrennen auch nicht nur die zwei.

Zeichen stehen auf Eskalation

Leider muss man vermuten, dass ukrainische Drohnen inzwischen nicht mehr Mineralölanlagen in Russland aufs Korn nehmen, sondern die militärische Atominfrastruktur Russlands zu treffen suchen, in dem Fall russische Radaranlagen gegen interkontinentale US-Raketen.

Jeder weiß, dass diese Drohnen mit westlichen Satellitendaten operieren.

Das ist keine Petitesse. So etwas kann zum "Taumeln am Abgrund" führen.

Diesen Titel, veröffentlicht 2023, empfahl das US-Magazin Foreign Affairs jüngst zur erneuten Lektüre. Er handelt von der Kuba-Krise und schließt mit den Worten: Wenn damals im Kreml das heutige Moskauer Meinungsbild vorgeherrscht hätte, wären wir alle "längst tot".

Die Lehren von Daniel Ellsberg

Der Artikel lieferte keine so genaue Beschreibung der Hintergründe und der Dimension der Kuba-Krise, wie das der US-Whistleblower und Autor Daniel Ellsberg in seinem Buch "The Doomsday Machine" tat.

Aber er erinnert an die damalige Verhandlungsbereitschaft beider Seiten, wobei er die Konzessionen, die US-Präsident John F. Kennedy machte, und die Schlussfolgerungen, die auf beiden Seiten gezogen wurden, nicht näher beleuchtete. Denn für Kennedy war das der Anlass, der Pax Americana eine Absage zu erteilen. Auf der UNO-Generalversammlung 1963 stellte er nicht nur die fundamentalen Differenzen zur Sowjetunion fest. Er bot geteilte Sicherheit an:

Aber ich möchte den Führern der Sowjetunion und ihrem Volk sagen, dass, wenn wir in beiden Ländern völlig sicher sein wollen, wir eine viel bessere Waffe als die H-Bombe brauchen, eine Waffe, die besser ist als ballistische Raketen oder Atom-U-Boote - und diese bessere Waffe ist die friedliche Zusammenarbeit.

Heute gilt ein solches Politikverständnis als "appeasement", als schwach und feige vor dem Feind.

Der Foreign-Affairs-Artikel enthält, gestützt auf sowjetische, erst neuerdings freigegebene Archivdokumente die Geschichte der sowjetischen Planungen, strategische Atomraketen auf Kuba zu stationieren.

Man kann darüber Tränen lachen oder an Slapstick glauben, denn was eine diktatorische Befehlskette und ein inkompetentes Militär zusammen an Unfähigkeit produzierten, ist schlicht atemberaubend. Das Problem, und das verwunderte die Autoren, bestand "nur" darin, dass es der sowjetischen Seite trotz aller Widrigkeiten gelang, Nuklearwaffen auf die Insel zu bugsieren, was den USA sehr spät auffiel.

Das wiederum erinnerte mich an eine umfängliche Recherche der New York Times vom Dezember 2022, die dokumentieren wollte, wie ein "Spaziergang durch den Park" zur Putin'schen "Kriegskatastrophe" in der Ukraine wurde.

Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Er erschien zuerst auf ihrer Substack-Seite.