"Aber ORDNUNG hat da geherrscht!"

Seite 3: Unsicherheit und Ordnung in der Computergesellschaft

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Im "Freitag" schrieb kürzlich Georg Seeßlen von der "Hyperinformationsgesellschaft". Dies sei eine Gesellschaft, in der nicht nur die Informationsmenge "absurd gestiege[n]" sei, sondern "in der [auch] die Nachricht schneller ist als das ihr zugrunde liegende Ereignis". Hyperinformationen seien "nicht als Nachricht oder Analyse, sondern als Weltbild zu verstehen", und "die Fähigkeit, eine Nachricht zu produzieren, ist bereits das Ereignis selber".

Seeßlen beschreibt damit einen Zustand, der einerseits an Jean Baudrillards Konzept der Hyperrealität erinnert, bei der eine Realität aus Zeichen die echte Wirklichkeit überdeckt (vgl. Mord ohne Opfer). Indem Seeßlen aber vor allem die Schnelligkeit betont, verweist er auch darauf, dass die neue mediale Komplexität durch Beobachter kaum noch zu bearbeiten ist.

Bei Komplexität sollte es aber nicht nur um Informationsmenge und Geschwindigkeit gehen, sondern auch um Wertung und Brauchbarkeit: Welche Elemente der schnell wachsenden Menge sind geeignet, Wissensbestände aufzubauen, die uns bei der Bearbeitung neuer Komplexitäten (und daraus resultierender Unsicherheiten) helfen könnten? Derart weitergedacht kann man Seeßlens Vorschlag der Hyperinformationsgesellschaft auch in der Nähe des Soziologen Helmut Willke verorten. Denn schon 2002 schrieb Willke in seinem Band "Dystopia" von der "hypermodernen Wissensgesellschaft". Er stellte fest, dass sich "neue ungehörige Formen des Wissens" "in den Vordergrund schieben" würden.

Willke beschrieb damit die Beobachtung, dass aus Sicht etablierter Formen Alternativangebote Unsicherheit erzeugen (denn sie gefährden potenziell die Existenz der etablierten Formen). Willke sprach von einer "Krisis des Wissens", die entscheidend durch die Verbreitungsmöglichkeiten von Computer und Internet getragen wird.1

Der Kulturwissenschaftler und Soziologe Dirk Baecker spricht in einem ähnlichen Theoriezusammenhang von "nächster Gesellschaft" oder "Computergesellschaft".2 Baecker sieht Computer als "paradigmatisch" für Veränderungen auf allen Teilgebieten der Gesellschaft an - Unsicherheiten, die gesamtgesellschaftlich zu beobachten sei, werden von Baecker in Analogie zu technik- bzw. computerinduzierter Unsicherheit gesetzt. Baeckers 1998 verstorbener Lehrer Niklas Luhmann hatte von der "unsichtbaren Maschine im Computer" gesprochen und damit gemeint, dass nicht speziell ausgebildete Personen nicht sagen können, was der Computer gerade tut bzw. was hinter der sichtbaren Oberfläche passiert. Luhmann beschrieb in nüchternen Worten das, was im eingangs zitierten taz-Artikel von Daniel Kretschmar sehr dramatisch ausgedrückt wurde.

Solange es bei der Nutzung von Computern nicht zu Störungen kommt, Computernutzung also als Ordnungsform zwischen Mensch und Technik beobachtbar ist, bleibt Luhmanns "unsichtbare Maschine" im Hintergrund. Umso deutlicher werden wir auf ihre Existenz hingewiesen, wenn etwas nicht wie erwartet funktioniert. In solchen unsicheren Situationen müssen plötzlich ganz andere Erwartungen gebildet werden, um wieder einen geordneten Zustand zu erreichen. Oft gelingt das nicht, dann greifen viele Anwender auf soziale Ordnungen als Alternative zurück (sie fragen also z.B. den computeraffinen Freund oder rufen selbst bei scheinbaren Kleinigkeiten die Hotline des Herstellers an).

Nun stehen wir aber in der heutigen Gesellschaft vor der besonderen Herausforderung, nicht nur mit einzelnen Computern oder im Aufgabenbereich klar abgegrenzter Software zu arbeiten. Stattdessen ist alles immer stärker in Netzwerke eingebunden, deren Aufbau und Funktionsweise für den Durchschnittsnutzer noch undurchschaubarer ist als deren einzelne Komponenten. Technik, die einst geschaffen wurde, um Probleme zu lösen, die zu komplex waren, um noch durch Menschen in angemessener Zeit bearbeitet zu werden (vgl. dazu das stellenweise problematische, aber dennoch lesenswerte Buch "Turings Kathedrale" von George Dyson), ist damit ihrerseits so komplex geworden, dass sie für viele Menschen selbst ein unlösbares Problem darstellt.

Genau diese Komplexität ist es mit Dirk Baecker, die vielen der derzeit beobachtbaren gesellschaftlichen Phänomen zugrunde liegt. Baecker hat das 2013 pointiert in "22 Thesen zur nächsten Gesellschaft" beschrieben. Kern des Ganzen ist auch hier Unsicherheit. Die Schwierigkeiten, die Einzelne haben, Unsicherheit zu kontrollieren, wenn ihnen nur althergebrachte, heute in Frage gestellte Weltbilder und Verfahren zur Verfügung stehen, bringt Baecker in These 14 auf den Punkt:

Das Individuum der nächsten Gesellschaft spielt, wettet, lacht und ist ratlos. Es zählt wie in der Stammesgesellschaft, fühlt wie in der Antike, denkt wie in der Moderne und muss sich dennoch jetzt und heute an der Gesellschaft beteiligen. Es vergewissert sich seiner Gruppe, träumt von seinem Platz, berechnet seine Chancen und erlebt, wie bereits die nächste Verwicklung es überfordert.

Dirk Baecker

Was bleibt, ist Offenheit.