Abhängig von der unabhängigen Justiz

Gerichtsraum im Aeropag. Bild: W. Aswestopoulos

Regierung und Opposition wollen eigene Richter

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Um die Besetzung der leitenden Posten des höchsten Gerichts, des Areopags, ist in Griechenland ein bizarre Ausmaße annehmender Streit entbrannt. Hintergrund ist der Plan der Regierung von Premierminister Alexis Tsipras, die Posten des Chefanklägers und des Obersten Richters des Areopags neu zu besetzten. Der Areopag ist das oberste Gericht für Zivilrecht und Strafgerichtsbarkeit. Über die Staatsanwaltschaft des Areopags werden unter anderen die Verfahren gegen straffällig gewordene Politiker eingeleitet. Dem Gericht fällt eine Schlüsselposition im griechischen Staatswesen zu.

Die bisherigen Amtsinhaber des Areopags gehen in den Ruhestand

Die beiden Amtsinhaber der Posten des Obersten Staatsanwalts des Areopags, aktuell Xeni Dimitriou, und des Obersten Richters, momentan Vassilios Peppas, scheiden am 30. Juni aus. Eine Verlängerung ihrer Amtszeit ist nicht möglich. Die Thematik der Neubesetzung der beiden Ämter überschattet die Affären um letzte Gefälligkeiten, mit der die Regierung treuen Anhängern auf den letzten Drücker einen Beamtenposten verschafft. Angesichts der Wichtigkeit der Posten tritt auch die in der vergangenen Woche noch schnell ins Parlament gebrachte Legalisierung von Schwarzbauten in Waldgebieten in den Hintergrund.

In Griechenland stehen zahlreiche, wichtige Verfahren an. Spitzenpolitiker von PASOK (jetzt KinAl) und Nea Dimokratia müssen sich wegen des Vorwurfs der Korrumpierbarkeit durch die Pharmaindustrie verantworten. Gleichzeitig fürchtet die Regierung Tsipras ihrerseits, dass die bei den Europawahlen erstarkte Opposition ihrerseits Strafverfahren gegen aktuelle Regierungspolitiker andeutet. Dies hatten die aktuell Angeklagten bereits mehrfach angekündigt.

Die obersten Richter des Areopags und die Staatsanwaltschaft entscheiden in letzter Instanz auch über Urlaubsanträge von Inhaftierten. Prominentes aktuelles Beispiel ist Dimitris Koufontinas. Koufontinas wurde mit dem Vorwurf, der Vollstrecker der als Terrororganisation eingestuften Gruppe des "17. Novembers", wegen mehrfachen Mordes zu einer mehrfachen lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Laut griechischem Strafrecht haben Verurteilte mit solchen Strafen nach einigen Jahren, das Recht, einen Urlaub zu beantragen. Dabei kann es sich um einen Bildungsurlaub für das Ablegen von Prüfungen oder aber um einen kurzen Familienbesuch handeln.

Der Urlaub kann nur dann verweigert werden, wenn neue Straftaten befürchtet werden. Ob dies der Fall ist, darüber entscheiden die Gefängnisleitung, sowie Richter und Staatsanwälte. Gegen die Urlaubsanträge Koufontinas, der bereits mehrfach von seinem Recht Gebrauch machte, laufen Politiker der Nea Dimokratia, der PASOK, sowie Vertreter der USA Sturm. Sie sehen in der Gewährung der gesetzlich verankerten Hafterleichterung eine Verhöhnung der Opfer des "17. November". Allerdings sind sie in anderen Fällen, die Straftaten von Rechtsextremen oder aber von gewöhnlichen Verbrechern betreffen, weniger zimperlich.

Der jüngst von der Gefängnisleitung genehmigte Urlaub Koufontinas wurde per Staatsanwaltsbeschluss blockiert. Koufontinas trat in den Hungerstreik und erreichte, dass die Staatsanwältin des Areopags per Dekret die Entscheidung der der unteren Instanz aufhob, und den Fall zur Prüfung an das Gericht des Areopags verwies. Die Nea Dimokratia fürchtet nun, dass Koufontinas, aber auch seine ebenfalls einsitzenden Kameraden weiterhin Urlaub erhalten, während sie an der Regierung ist. Dies würde gemäß der Logik der Anhänger der Nea Dimokratia, den Nimbus der Partei als Law-and-Order Partei erheblich schädigen.

Unter diesem Prisma sind die Zweifel, welche beide Seiten an der ansonsten von ihnen immer wieder gepriesenen "unabhängigen Justiz" hegen, verständlich. Allerdings stört eben dieser öffentlich ausgetragene Streit die Verbände der Justizdiener, die sich ihrerseits kompromittiert fühlen.

Die Europawahlen und die vorgezogenen Parlamentswahlen

Den Vorsitzenden der höchsten Gerichte Griechenlands wird zudem im Fall einer Regierungskrise vom Präsidenten der Republik das Amt des Premiers übertragen. Nach Parlamentswahlen gibt der Präsident den Parteien in der Rangfolge der von ihnen erreichten Prozente bei den Wahlen den Regierungsauftrag. Innerhalb von drei Tagen muss dieser in eine Regierungsbildung münden, ansonsten wird der Auftrag an die nächste Partei weiter gegeben. Wenn dieses Procedere fruchtlos bleibt, werden Neuwahlen ausgerufen. In der Zwischenzeit gibt es in Griechenland, anders als zum Beispiel in Deutschland nicht den Brauch, den bis zu den Wahlen amtierenden Premier weiter regieren zu lassen, wie es zum Beispiel bei der monatelangen Regierungsbildung in Deutschland nach den Wahlen von 2017 der Fall war.

Die Regierungsgeschäfte übernimmt in solchen Fällen, aber auch, wenn eine Regierung über einen parlamentarischen Vertrauensentzug stürzt, einer der Gerichtspräsident des Areopags oder des Staatsrats, des obersten Verwaltungsgerichts. Auch dies ist ein Grund für jede der Parteien, einen ihr wohl gesonnenen Richter im Amt zu wissen.

Eigentlich wäre die diesjährige Bestimmung der neuen obersten Justizrepräsentanten eine reine Formalie geworden. Tsipras wollte die Parlamentswahlen zum letztmöglichen Zeitpunkt, also vier Jahre plus einen Monat nach den letzten Wahlen abhalten lassen. Seine erdrutschartige Niederlage machte ihm aber einen Strich durch die Rechnung. In der Nacht vom Sonntag, den 26. Mai auf Montag, den 27. Mai hatte der Premier in einer öffentlichen Ansprache entschieden, dass er angesichts der hohen Wahlniederlage direkt nach dem zweiten Wahlgang der parallel zu den Europawahlen abgehaltenen Regionalwahlen und Kommunalwahlen beim Präsidenten die Auflösung des Parlaments beantragen würde.

Gleichzeitig begann die Debatte, ob SYRIZA bei den Wahlen nur eine Schlappe oder eine "strategische Niederlage" erlitten habe. Der frühere Vizepremier Evangelos Venizelos brachte es bereits im Februar auf den Punkt: "Eine strategische Niederlage von SYRIZA, das bedeutet, dass SYRIZA weder die Entwicklungen der Regierung, der Verfassungsreform, des Wahlsystems oder der Wahl eines neuen Präsidenten der Republik beeinflussen kann." Diesem Statement fügte er bei einem Kommentar zum Wahlausgang zu, dass mit dem Eingeständnis Tsipras, dem Verlust des Wählerzuspruchs, nun auch das Recht zur Bestimmung neuer oberster Richter verloren sei.

Derweil hatte die Regierung die Wahlvorschläge für die neuen Justizoberen bereits mit der Mehrheit der Mitglieder des Parlamentspräsidiums abgesegnet. Es stand nur die formale Wahl der Kandidaten durch das Regierungskabinett aus. Venizelos, von Beruf Staatsrechtsprofessor und Verfassungsexperte, hatte mit seinen Kommentaren einen Nerv getroffen. Sofort zweifelte die Nea Dimokratia das Recht Tsipras zur Besetzung der Richterposten an.

Hätte Tsipras seine Ankündigung, am 3. Juni zum Präsidenten zu gehen, wahr gemacht, dann gäbe es ab diesem Termin kein für eine Bestimmung oberster Richter befugtes Kabinett. Denn dies ist per Gesetz 2190/94, Kapitel E, Artikel 28 verboten. Das im Volksmund nach seinem Schöpfer Peponis-Gesetz genannte Gesetz verbietet bis auf wenige Ausnahmen die Neubesetzung von Posten öffentlicher Bediensteter, wenn Wahlen ausgerufen werden, bis zur Bildung einer neuen Regierung. Die wenigen Hintertürchen, welche das Gesetz offen hält, betreffen Naturkatastrophen.

Zudem werden nach Ausrufung der Wahlen die Posten des Innenministers und des Justizministers mit unabhängigen Kandidaten besetzt, so dass das Kabinett in eine Übergangsphase versetzt wird. Besonders kritisch ist zudem der Grund, den der jeweilige Premier beim Präsidenten für die Ausrufung von Neuwahlen geltend macht. Das Eingeständnis einer krachenden Wahlniederlage bei den Europawahlen kann Tsipras nicht geltend machen, denn dies würde als Anerkennung des Vertrauensverlustes gewertet und damit die Berufung eines Richters für das Amt des Premiers notwendig machen.

Eine weitere Komplikation ergibt sich wegen des Termins der Abberufung der jetzigen Amtsinhaber beim Areopag. Der Präsident muss die Ernennung der Nachfolger unterschreiben, kann dies aber nicht tun, so lange die Vorgänger formal noch amtieren. Ergo ist eine Ernennung der Nachfolger erst nach dem 30. Juni möglich. Eine vorherige Ernennung würde zum Paradoxon von zwei obersten Richtern des Areopags, und somit zu einer verfassungsrechtlich höchst bedenklichen Situation führen.

Erste Reaktion - Verschiebung des Wahltermins

Als erste Reaktion auf das juristische Chaos hat die Regierung den eigentlich bereits verkündeten Wahltermin vom 30. Juni auf den 7. Juli verlegt. Zudem wird Tsipras nicht am 3. Juni zum Präsidenten gehen, sondern mindestens eine Woche später. Die Begründung lieferte die Regierung rasch nach, man wolle die Zentralabiturprüfungen der Schüler nicht mit Wahlen blockieren und diesen eine Teilnahme an der Wahl ermöglichen, heißt es. Dass die letzten Prüfungen bereits am 25. Juni stattfinden, ist offenbar nur ein störendes Detail dieser Begründung.

Kurzzeitig versuchte die Regierung die Opposition zum Einlenken und zu einer gemeinsamen Wahl der obersten Richter zu bewegen. Dies scheiterte bereits im Ansatz. Daraufhin verkündete die Regierung, dass sie bis zum letzten Amtstag über alle Kompetenzen verfüge, und demnach frei handeln könne.

Tsipras schafft Fakten

Schließlich berief Tsipras am Freitag das Kabinett ein und ließ die neuen obersten Repräsentanten des Areopags bestimmen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes sind beide Ämter gleichzeitig mit Frauen besetzt. Zudem ließ Tsipras eine Richterin für das Amt des obersten Staatsanwalts wählen. Er brach damit mit der Tradition, dass dieser Posten mit Staatsanwälten besetzt wird.

Neue oberste Richterin des Areopags soll demnach Irini Kalou werden. Die 65-Jährige ist seit 2014 Richterin am Areopag. Den Posten des obersten Staatsanwalts des Areopags erhält die gleichaltrige Dimitra Kokotini. Kokotinis Bruder war Kandidat für ein Bürgermeisteramt bei den Wahlen, ist aber gescheitert. Er trat mit der Unterstützung von SYRIZA an, womit die Opposition einen weiteren Kritikpunkt für ihre Argumentationskette gewann.

Zudem wurden von der Regierung Evangelia Nika und Konstantinos Kousoulis sowie Dimitrios als stellvertretende Präsidenten der Richter des Staatsrats bestimmt. Noch in der letzten Woche vor der Auflösung des Parlaments möchte die Regierung die seit Jahrzehnten immer wieder aufgeschobene Reform der Strafprozessordnung ins Parlament bringen und verabschieden lassen.

Der Präsident hat das letzte Wort

Hinsichtlich der Strafprozessordnung hat Präsident Prokopis Pavlopoulos kaum Möglichkeiten, seine Unterschrift zu verweigern. Bei der Wahl der Richter kann Pavlopoulos, der ebenfalls Staatsrechtsprofessor ist, die Unterschrift verweigern, wenn er eine Verletzung von verfassungsmäßig verankerten Gesetzten, sowie geltendem Recht als Begründung anführt.

Das Amt des Staatspräsidenten verweigerte jegliche Auskunft über die Absichten Pavlopoulos. Diese würden beizeiten, wenn er die Ernennungsurkunden zur Unterschrift vorgelegt bekäme, bekannt gemacht, hieß es.