"Abmahnwelle von ganz erheblichem Umfang"
Ein offener Brief soll die NRW-SPD zum Stopp des neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrages bewegen
Derzeit wird ein neuer Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) von den Parlamenten der Länder ratifiziert. Ob eine der Länderkammern ihn noch stoppt, ist fraglich. Das liegt nicht nur an den Parlamentsmehrheiten, sondern auch daran, dass es außerhalb von Fachkreisen und Bürgerrechtlern nur sehr bedingt Widerstand gegen die wenig bekannte Novelle gibt. Selbst die Grünen in Thüringen, die vor der Wahl ein Bündnis mit der Piratenpartei geschlossen hatten, stimmten ohne Regierungsbeteiligung und damit ohne Koalitionsnot dafür.
Henning Tillmann, ein Mitglied des Gesprächskreises "Netzpolitik und Digitale Gesellschaft" im SPD-Parteivorstand, hegt trotzdem die Hoffnung, dass seine Partei in Nordrhein-Westfalen, wo es kurz nach der Ministerpräsidenten-Verabschiedung des JMStV im Juni einen Regierungswechsel gab, die Regelung noch stoppen könnte. Anlass dafür bieten ihm das Abstimmungsverhalten der SPD-Fraktion im niedersächsischen Landtag, eine Empfehlung des NRW-Landesparteirats der Grünen, die Novelle abzulehnen, und skeptische Wahlkampfäußerungen der SPD an Rhein und Ruhr, von denen jedoch nicht klar ist, inwieweit sie von der Parteiführung nur mit dem Ziel geduldet wurden, der Piratenpartei Wähler abspenstig zu machen.
Möglicherweise nimmt Tillman den leichten Netzpolitik-Kurswechsel seiner Partei nach dem Ende der Großen Koalition etwas übertrieben wahr. So spricht er von einer "Distanzierung" der SPD vom Zugangserschwerungsgesetz, erwähnt aber nicht, dass die Partei auch in der Opposition für den Bundestrojaner stimmte und sich bei einem Grünen-Antrag zur Verhinderung der Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung enthielt, dass Dieter Wiefelspütz solch eine Vorratsdatenspeicherzung immer noch für "unerlässlich" hält und die personell eng mit der SPD verflochtene Gewerkschaft Verdi sich unlängst gar für eine Totalüberwachung des Netzes zum Zwecke der Ermittlung von Immaterialgüterdelikten aussprach.
Hinzu kommt, dass der JMStV maßgeblich vom rheinland-pfälzischen SPD-Staatssekretär Martin Stadelmaier mitformuliert wurde und Jan-Marc Eumann, der Staatssekretär für Medien in NRW und Vorsitzende der SPD-Medienkommission, ihn wie eine bereits beschlossene Sache behandelt. Die NRW-SPD könnte dem Vorhaben, mit dem sich kaum ein Politiker wirklich auskennt, möglicherweise sogar allein deshalb zustimmen, um ein zur Abwehr von Vorwürfen wertvolles Belegbeispiel dafür zu erzeugen, dass sie nicht nur mit der Linkspartei, sondern auch mit der CDU Mehrheiten zustande bekommt.
Wahrscheinlich realistisch ist dagegen Tillmanns Einschätzung, dass eine "Zustimmung zum JMStV [...] die aufkeimende Netzpolitik-Glaubwürdigkeit deutlich dämpfen" würde.
Für sein Anliegen hat der SPD-Politiker in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis gegen Internet-Sperren und Zensur (AK Zensur) gut 50 mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten aus der Politik, der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Kultur und den Medien dazu gebracht, ihre Unterschrift unter einen offenen Brief an die SPD-Abgeordneten im Landtag von Nordrhein-Westfalen zu setzen, der vor erheblichen negativen Auswirkungen warnt.
Auf der Liste der Unterzeichner finden sich unter anderem der Juso-Bundesvorsitzende Sascha Vogt, der nordrhein-westfälische Juso-Landesvorsitzende Veith Lemmen, die SPD-Verbraucherschutzexpertin Cornelia Tausch, die ehemalige Bundesjustizministeriums-Pressesprecherin Marita Strasser, der Heise-Justiziar Joerg Heidrich, der Lawblogger Udo Vetter, der Sascha-Lobo-Fernsehwiderpart Mario Sixtus, Andreas Maurer von 1&1, Felix Neumann vom ZK der deutschen Katholiken, Markus Beckedahl von netzpolitik.org sowie der IT-Fachanwalt Thomas Stadler, der bislang die lesbarste Zusammenfassung von Gewinnern und Verlierern der Novelle lieferte.
In zwei kurzen Texten zeigt er auf, wie der Vertrag in seiner neuen Fassung voraussichtlich etablierten Erotikanbietern und wirtschaftlichen Akteuren in Bock-Gärtner-Stellung nutzen wird. Dies erklärt auch, warum von den Anbietern pornographischer Inhalte praktisch keine Kritik an der geplanten Rechtsänderung kam: Sie können ihre Inhalte künftig rund um die Uhr ohne persönliche Altersverifizierung freischalten.
Dass die in der Novelle festgeschriebenen Mittel für einen besseren Jugendschutz eher untauglich sind, ist teilweise auch deren Befürwortern klar. Die sehen aber, wie der beim Zentrum Bayern Familie und Soziales als Regierungsrat beschäftigte Stephan Ott in einem Meinungsartikel für Telepolis offen zugab, die Änderung nur als "Schritt in die richtige Richtung". Weitere Schritte wären konsequenterweise Netzsperren für ausländische Seiten wie Facebook, die sich nicht an deutsche Vorschriften halten.
Ein Kernbestandteil der Neufassung des JMStV ist die ab dem 1. Januar 2011 für alle Webseiten und sogar für Formumseinträge oder VZ-Äußerungen verpflichtende Alterskennzeichnung. Für Nachrichtenmedien ist zwar eine Ausnahme vorgesehen - allerdings ist diese so unbestimmt formuliert, dass manche Juristen und Jugendschutzbeauftragte vor einem Rückgriff darauf zögern. Ein Test des AK Zensur ergab bei der Alterseinstufung eine Fehlerquote von 80 Prozent. Und wer fehlerhaft einstuft, der ist in Zukunft einem Abmahnrisiko ausgesetzt, weshalb der neue Vertrag in bestimmten Kanzleien und bei dubiosen "Mitbewerbern" schon für heitere Planungsaktivitäten sorgen dürfte. Der offene Brief spricht in diesem Zusammenhang von einer drohenden "Abmahnwelle von ganz erheblichem Umfang".
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