"Abriegelung von Gaza dürfte ein Kriegsverbrechen darstellen"

Seite 2: EU erhöht Hilfen – die kommen aber gar nicht nach Gaza

Das gilt ja aber auch für EU-Chefdiplomat Josep Borrell, der im vergangenen Jahr gesagt hat, man dürfe den Hunger der Menschen nicht als Kriegswaffe einsetzen. Er bezog sich damals auf Russland, die Ukraine und den Getreidedeal.

Aber ich würde gerne noch einmal auf die humanitäre Lage eingehen. Wie kann die Europäische Union den Menschen angesichts der totalen Abriegelung von Gaza durch die israelischen Streitkräfte überhaupt helfen? Brüssel hat die Gelder für humanitäre Hilfe zwar verdreifacht, aber bringt das den Menschen überhaupt etwas?

Riad Othman: Der Druck auf die israelische Regierung als Kriegspartei müsste vonseiten der EU und auch bilateral massiv erhöht werden, um sie dazu zu bringen, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten und zumindest die derzeitige vollständige Abriegelung zu lockern sowie humanitäre Hilfe hineinzulassen.

Gegenwärtig kommt von außen überhaupt keine Hilfe nach Gaza, weder von den Vereinten Nationen noch von der Europäischen Union. Deswegen kommt auch von der aufgestockten EU-Hilfe nichts an. Also weder über Ägypten noch über Israel.

Apropos: Ägypten hat die Grenze ebenso dichtgemacht und öffnet sie auch jetzt nicht.

Riad Othman: Deswegen sollte auch die ägyptische Führung in die Pflicht genommen werden. In Bezug auf die Hilfen nach Gaza ist es so, dass Israel am Montagmorgen kurzfristig verlangt hat, am Grenzübergang Rafah jeden einzelnen Lastwagen selbst zu kontrollieren. Die Ägypter haben das abgelehnt.

Und jetzt ist man auf der Suche nach einer dritten Partei, der beide vertrauen und die das übernehmen könnte. Aber das wird sich hinziehen und die Hilfe noch weiter verzögern.

Eine Alternative wäre, dass Israel seine eigenen Übergänge einrichtet, auf dem eigenen Territorium. Aber das passiert im Moment nicht. Im Gouvernement Khan Younis wird nun etwas Wasser bereitgestellt, wenn auch nicht in ausreichender Menge. Nach Aussage der israelischen Armee geschieht das, um einen Anreiz für die Menschen zu schaffen, in den Süden zu fliehen.

Das politische Standing der Hamas

Das Ziel der israelischen Seite wurde mehrfach sehr deutlich formuliert: Die Hamas soll nach dem Massaker vom 7. Oktober vernichtet werden. Was bedeutet das für die Haltung der Bevölkerung gegenüber der Hamas, die ja die Eskalation direkt verursacht hat?

Riad Othman: Meine Wahrnehmung ist, dass ein Großteil der Bevölkerung ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Hamas hat. Die Mehrheit der Menschen, die ich kenne, lehnt sowohl die Fatah von Mahmoud Abbas als auch die Hamas entschieden ab. Das hört man auch oft in Alltagssituationen, von Taxifahrern oder Verkäufern in Läden, wenn man sie danach fragt.

Diese Ablehnung begründet sich zum Teil wegen der jeweiligen politischen Ausrichtung, vor allem aber, weil sie die einen, also die Fatah, als Helferin der israelischen Besatzung wahrnehmen, die Polizei- und Geheimdienstarbeit im israelischen Interesse und zum eigenen Machterhalt gegen die eigene Bevölkerung verrichtet, anstatt diese vor der Besatzungsmacht zu schützen.

Jedoch regiert die Hamas diktatorisch und hat auch in mehreren militärischen Auseinandersetzungen mit Israel keine Verbesserung der Lebensbedingungen in Gaza erreicht. Im Gegenteil, das Leid der Bevölkerung hat sich durch die Angriffe und Gegenangriffe des israelischen Militärs, die insbesondere die Zivilbevölkerung treffen, nur verschlimmert.

Gleichzeitig muss man aber zur Kenntnis nehmen, dass die Hamas von vielen – und zwar über ideologische oder politische Gräben hinweg – als stärkste politische und bewaffnete Kraft unter den palästinensischen Parteien und Akteuren gesehen, die gegen die Besatzung kämpfen. Bewaffneten Widerstand sehen viele in Palästina nicht als Terrorismus.

In meinen Augen zeugt das vornehmlich von der völligen Ausweglosigkeit der Situation. Die Menschen haben einen Tiefpunkt erreicht, an dem jedes Mittel recht erscheinen mag, um an ihrer Situation nur irgendwie etwas zu verändern. Das kann und sollte aber die Gewalttaten der Hamas in keiner Weise rechtfertigen.

Wie ist Ihre Organisation vor Ort vertreten und welche Handlungsmöglichkeiten haben?

Riad Othman: Medico ist in Gaza mit Partnerorganisationen vertreten, so wie wir sie auch in Israel haben. Das sind Organisationen, die unabhängig von uns sind, die wir aber unterstützen. In Gaza haben wir etwa eine Partnerschaft mit der Palestinian Medical Relief Society, die jetzt Nothilfe im Gesundheitsbereich leistet, die Hausbesuche bei Menschen macht, die nicht raus können oder sich aufgrund der Sicherheitslage nicht trauen. Die Kolleginnen und Kollegen errichten auch sogenannte Pop-up-Kliniken, um vor allem akute Infektionen und chronische Erkrankungen zu behandeln. Auch in Kriegszeiten werden die Menschen ja krank oder hören nicht auf Diabetes oder Bluthochdruck zu haben.

Und das andere ist, sie können auch leichte Verletzungen behandeln oder postoperativ helfen, Wunden zu säubern, zu versorgen und so den Heilungsprozess zu unterstützen. Sie arbeiten in Gaza-Stadt und in den überfüllten Sammelpunkten, wo die Menschen Zuflucht gesucht haben, auch in dem von Israel vorgesehen Gebiet zur Evakuierung, z. B. in Khan Younis.

Die Culture and Free Thought Association in Khan Younis versorgt jetzt auch Binnenvertriebene. Sie versorgen Menschen mit Matratzen, Decken, Lebensmittel, Wasser. Alleine in den zwei Gebäuden und im Hof des Familienanwesens einer unserer Kolleginnen wurden 180 Menschen aufgenommen. Und in dem Frauen- und Jugendzentrum wurden Dutzende Familien untergebracht.

Aber unsere Partner schaffen es nicht, den Leuten genug zu kaufen. Das liegt nicht nur am Geld, sondern auch an der Verfügbarkeit bestimmter Güter, der Unsicherheit der Wege, um sie zu beschaffen, und nicht zuletzt auch an der Preisexplosion dieser entstehenden Kriegsökonomie einer nunmehr vollständig abgeriegelten Enklave, in der alles knapp zu werden droht.

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