Abschied von Mutti
Schwindet mit Angela Merkel auch ihr Politikstil der Risikoscheu und Veränderungsfeindschaft?
"Die Lage war noch nie so ernst."
Konrad Adenauer
"Selbst die Zukunft ist früher besser gewesen."
Karl Valentin
Es herrscht Chaos und die Bundeskanzlerin hat die Lage nicht mehr im Griff. Politik ist aber immer auch das, was möglich ist. Wenn man Angela Merkel zuletzt zugehört hat, etwa bei ihrem öffentlichen Bitten "um Verzeihung", dem bezeichnenderweise keine neuen Ideen, kein "Plan B" folgte, oder bei ihrem Auftritt bei "Anne Will", der auch nur aus Rechtfertigungen des eigenen Handelns bestand, dann bekommt man den Eindruck, dass das schwache Bild des Staates und der derzeitigen Regierenden auch etwas mit dem von der Kanzlerin implementierten Politikverständnis zu tun hat.
Sie warnt, sie mahnt, sie weicht aber zugleich Entscheidungen und einem klaren Kurs aus. Auch hier erweist sie sich als politische Tochter des ewigen Kanzlers Helmut Kohl. Sie sitzt die Probleme aus. Das ist gut im politischen Wettkampf, denn dort bedeutet Aussitzen, dass sie die Geduld hat, lange genug zu warten, bis die jeweiligen Gegner Fehler machen.
Das ist gut in Situationen wie den europäischen Verhandlungsmarathons in Brüssel, wo sie die übrigen Staatschefs in langen Nacht-Sitzungen einfach müde sitzen kann. Das mag auch gut sein in generellen und allgemeinen Problembehandlungen, denn Merkel weiß aus Erfahrung, dass sich von zehn Problemen sieben von selbst erledigen, ein achtes dadurch, dass der politische Gegner falsch entscheidet.
Das neunte wird dann mit einer selbstverständlichen und den allgemeinen Konsens treffenden Entscheidung beantwortet. Und die Antwort aufs zehnte Problem kann man dann in deren Windschatten durchwinken. Doch all diese Rezepte versagen in der Krise.
Man hat diesen besonderen und neuen Stil von Angela Merkels Handeln sehr oft auf ihre Ausbildung als Physikerin zurückgeführt - im Unterschied zu den vielen Juristen, die normalerweise in höchste Ämter aufsteigen.
Nun mag der sorgfältige Hang zum Prüfen vor etwaigen Entscheidungen und das vorsichtige Tasten, das experimentierende Handeln, als ob man in einem Labor eine Versuchsreihe starten würde, sowie der Hang zum Ausgleich, zur Balance tatsächlich etwas mit einem physikalischen Weltbild zu tun haben.
Es gibt aber auch keinen Anlass, diesen Politik Stil zu verklären. Tatsächlich hat Angela Merkel vor allem ein schlichtes, mechanistisches Politikverständnis. Es besteht aus Entscheidungen auf Grundlage von Daten, der Interpretation von Statistiken, der Beantwortung anstehender Fragen durch Selbstverständlichkeiten, und Vertagungen.
Die Kanzlerin wartet, und nutzt unter Umständen Gelegenheitsfenster, aber sie schafft diese so gut wie nie selbst. Als das Fahren und Handeln "auf Sicht" charakterisiert sie dies selber.
Haltungslosigkeit und situativer Politikstil
Gegner und Kritiker der Kanzlerin werfen ihr bereits seit ihrem Antritt im Amt vor allem diese Haltungslosigkeit und vermeintlich fehlende Werte-Orientierung vor, vulgo: politischen Opportunismus. Der Springer-Mitarbeiter Nikolaus Blome beschrieb bereits Ende der Nullerjahre den "grassierenden Relativismus der Kanzlerin, das schwammig Mittige, das wertlos Beliebige."
Die ehemalige CDU-Beraterin Gertrud Höhler ging noch weiter: "Wer Werte und Normen einer demokratischen Gesellschaft zur Manövriermasse macht wie Angela Merkel, der arbeitet am Zerfall der Demokratie." Ähnlich von links: Jakob Augstein spricht von Rückgratlosigkeit, davon, sie opfere die Strategie zugunsten der Taktik.
Der Parteienforscher Karl Rudolf Korte hat freundlich von einem "situativen Politik-Stil" gesprochen und formuliert, im Zentrum von Merkels Handeln stehe der "Wirklichkeitsgehorsam". Also nicht der Möglichkeitssinn, nicht das aktive Gestalten, sondern eher das geschickte Reagieren.
Geschweige denn, dass man über Visionen debattiert hätte, darüber, wie eine andere Gesellschaft aussehen könnte.
Mit diesem Verhaltensmuster ist Angela Merkel zur populärsten Kanzlerin der bundesrepublikanischen Geschichte aufgestiegen. Insofern muss man anerkennen, dass diese Kanzlerin ihr Volk, die Bürger, die sie wählen und wählen sollen, zwar einerseits sediert hat, so wie manche Mütter ihren schreienden Babies Baldrian ins Milchfläschchen tröpfeln, dass aber andererseits die Handlungsscheu und Veränderungsfurcht der Kanzlerin genau derjenigen einer Bevölkerung entspricht, deren nach wie vor populärster Ex-Kanzler am stärksten mit dem Satz in Erinnerung ist: "Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen."
Bleierne Scheu vor Risiken
In der Corona-Krise zeigt sich, dass dieser Politik-Stil, der gerne für seinen Wirklichkeitssinn gelobt wird, keinen Sinn für Möglichkeiten besitzt. Dass dieser Politik-Stil in jeder Möglichkeit vor allem ein Risiko und eine Gefahr sieht. Dass Vorsicht auch dasselbe sein kann wie Handlungsunfähigkeit und Lähmung.
Jedenfalls scheint sich ein Mehltau der Lähmung, eine bleierne Scheu vor Risiken und Verantwortungsübernahme über das ganze Land gesenkt zu haben. Es fehlt komplett das Gespür für das, was möglich ist, und was möglich sein könnte.
Aber die Zukunft besteht nicht nur aus Linearem und dem Voranschreiten innerhalb von Linien. Zur Gestaltung der Zukunft müssen Zukunftspotenziale erkannt werden, die Korridore des Denkens und Handelns müssen erweitert werden.
Auch jenseits der aktuellen Pandemie kann man beim Blick auf die vergangenen 16 Jahre festhalten, dass aus dem Kanzleramt überaus selten Impulse kamen, in denen Zukunftsbilder formuliert worden, übergreifende Ziele benannt, Potentiale angeregt.
Es fehle die Antworten auf Fragen wie diese: Wie wollen wir zusammenleben? Wie wollen wir arbeiten? Wie kann Deutschlands Position in der Welt des 21.Jahrhunderts aussehen? Wie meistern wir die Herausforderungen durch den Abstieg der USA und den Aufstieg Chinas als Weltmächte? Wie meistern wir die Herausforderungen für die Demokratie als solche und Herausforderungen für den Stellenwert Europas in der Welt?
Es sind Fragen, die sich für Deutschland als Ganzes stellen. Sie führen auf den Kern des Politischen. Wie sieht ein zukunftsfähiges Politikverständnis aus? Ein Politikverständnis, das den transformativen Herausforderungen gerecht wird und die Zukunft gestaltet, nicht nur die Gegenwart managt. Welchen Anspruch soll die Politik an sich selbst stellen?
Möglicherweise brauchen Demokratien in der Zukunft einen Politikstil, der stärker auf Handlungspotentiale und Aktivismus, auf Risikobereitschaft hin orientiert ist. Möglicherweise müssen Politiker, die den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sind, ihr Land stärker wie Unternehmer führen und weniger wie Mentoren und Moderatoren.
Der Individualismus, die Disziplinlosigkeit und die Risikobereitschaft, die Länder wie Großbritannien und Israel gemeinsam haben wie auch die USA und China, sind in der Pandemie-Bekämpfung eindeutig von Vorteil. Die Technik und Wissenschaft gegenüber aufgeschlossenen Staaten und ihre jeweiligen Regierungen haben kein Problem damit, Impfstoff gegen Gesundheitsdaten zu tauschen, aber Risiken einzugehen.
In Deutschland das Gegenteil: Disziplin, also Liebe zur öffentlichen Ordnung - man könnte aber auch sagen: der Geist des Kasernenhof - herrschen vor. Diese preußische Disziplin verbunden mit bürokratischer Kontrolle führte zwar zu schnellen frühen Ergebnissen bei der Kontrolle der Pandemie, sie führt aber genauso zum Versagen in ihrer nachhaltigen Bekämpfung.
Das, was in dieser Krise geleistet wird und was nicht zu leisten ist, kann man sehr schnell auf die Bekämpfung anderer Krisen übertragen: Probleme im europäischen Verbund werden, wenn sie sich nicht anders lösen lassen, mit einer Flut von Hilfsgeldern zugeschüttet. Konkurrierende Randstaaten werden horrend dafür bezahlt, dass sie die Drecksarbeit für die EU in der Abschottung gegenüber nichteuropäischen Flüchtlingen leisten.
Umweltpolitisch wird in Deutschland brav der Hausmüll in fünf verschiedene Eimer getrennt und digitale Vorschriften des Umweltmanagement füllen viele Regalmeter, trotzdem ist auf diesen Wegen keine veränderte umweltpolitische Zukunft in Sicht. Die eigentlichen Probleme sind so nicht zu meistern.
Die Matrix der Zukunft
Der Philosoph Harry Lehmann hat kürzlich in einem Aufsatz im Merkur die These entfaltet, nach der die Politik der westlichen Demokratien kurz vor einem "Kippmoment" stünde. Statt der in den vergangenen über 30 Jahren vorherrschenden Orientierungen an ökonomischen Fragen würde in Zukunft eine Orientierung an kulturellen Fragen zum entscheidenden Faktor der Differenzierung politischer Lage werden. Die politischen Lager, links und rechts würden sich zum einen zwischen den Polen "global" und "national" ausrichten sowie anhand von identitären und nicht-identitären Begründungen ihrer Politik.
Auch die Union wird sich in einer solchen Matrix der Zukunft positionieren müssen. Diese Zukunft ist auch für die Union so offen wie gefährlich. Noch einmal Nikolaus Blome:
Merkel ... hat für die CDU den Begriff der "Mitte" zum Mantra gemacht, Mitte ist gut, Mitte hat recht, die Mitte sind wir und so weiter und so fort. Sie hat die Partei bei manchen Themen bis ziemlich weit nach links geführt, zugleich in Richtung der Grünen geöffnet. Das macht die CDU 360 Grad anschluss- und koalitionsfähig - und könnte Angela Merkels zentraler Nachlass für die CDU werden.
Aber weniger Mitglieder hat die CDU trotzdem und deutlich weniger politische Mandate auch. Das zehrt.
Nikolaus Blome