"Absolut letztes Mittel"

Seite 2: Letztes Mittel?

Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob der Staat alles in seiner Macht Stehende bereits versucht hat, um mit anderen weniger einschneidenden Maßnahmen als die allgemeine Impfpflicht das Ziel des Schutzes des Gesundheitssystems zu erreichen. Ob also die allgemeine Impfpflicht dem Anspruch der WHO genügt, das "absolut letzte Mittel" zu sein.

Der grundsätzliche Punkt, dass die deutsche Regierung während der gesamten Krise so gut wie nichts unternommen hat, um die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus im Allgemeinen und auf Intensivstationen im Besonderen zu verbessern, sollte eigentlich bereits ausreichen, um diese Voraussetzung der WHO zu verneinen.

Hinzu kommen einige grundlegende Fehler und Versäumnisse, die die Krise für die Bevölkerung deutlich verschärft haben und die Regierung immer noch korrigieren könnte. Und diese auch korrigieren müsste, bevor eine allgemeine Impfpflicht wirklich in Erwägung gezogen werden könnte.

Zum einen ist hier das komplette Desinteresse an den Genesenen zu nennen, die ohne jegliche Differenzierung sechs Monate nach ihrer Erkrankung schlicht als Ungeimpfte gelten. Dies hätte konkret Auswirkungen auf Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Deutsche, die, obwohl genesen, als Ungeimpfte gelten, weil sie sich auch sechs Monate nach der Infektion bisher nicht geimpft haben.

Des Weiteren ist auch nach zwanzig Monaten die Datenlage nicht so sicher, wie sie eigentlich sein sollte, um darauf aufbauend über Reglements zu entscheiden, die in Form der verschiedenen Corona-Maßnahmen teilweise extrem tiefgreifende Konsequenzen für das Leben aller Menschen haben.

Hier kann man nicht nur auf die fehlende Datenlage bei den Genesenen hinweisen, die schlicht als Kategorie eigentlich nicht existieren, sondern auch auf den hohen Anteil der an Sars-CoV-2 erkrankten Menschen, die auf einer Krankenstation oder auf Intensiv liegen und bei denen der Impfstatus unbekannt ist. Der Medizinstatistiker Gert Antes nennt einen weiteren Fehler im Zusammenhang mit der Datenlage:

Der bezieht sich auf die sogenannten Routinedaten – also auf jene Daten, die eigentlich von ganz alleine anfallen würden: die Abrechnungsdaten bei den Krankenkassen oder die Unterlagen zu den Krankenhausaufnahmen. Darin verbergen sich Unmengen an Informationen, aber es wird einfach versäumt, diesen Daten-Pool wissenschaftlich aufzubereiten. Ich habe schon am Beginn der Pandemie dazu aufgerufen, eine Art Masterplan zu erstellen – einen Plan, bei dem man sämtliche Fragen zusammenstellt, auf die wir bis dato keine zufriedenstellenden Antworten haben. Aus diesen Fragen könnte man dann eine Strategie entwickeln, um mit geeigneten Studien und eben aus den Routinedaten zu den entsprechenden Antworten zu kommen. Aber was soll ich sagen? Wir machen es halt einfach nicht.

Gert Antes

Auch das Ärzteblatt warnt, nachdem es die verschiedenen bürokratischen Probleme aufgezeigt hat: "Wir laufen noch immer Gefahr, maximale Maßnahmen ergreifen zu müssen, weil wir zu wenig wissen."

Drei aktuelle Beispiele zur stark verzerrten Datenlage: In Hamburg hatte der Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) behauptet, 90 Prozent der Corona-Infizierten seien Ungeimpfte. Tim Röhn kommentierte in Die Welt:

Die Zahlen der Kalenderwoche 45, über die Tschentscher sagte, in 90 Prozent der Fälle seien Ungeimpfte infiziert. Tatsächlich war in 63,2 Prozent der Fälle der Impfstatus unbekannt. 22,5 Prozent waren Geimpfte. Und jene, von denen man mit Sicherheit sagen konnten, dass sie ungeimpft waren? 14,3 Prozent.

Tim Röhn

Aus Bayern kann man Vergleichbares berichten. Anette Dowideit kommentiert: "Wer auf Basis solchen Zahlensalats argumentiert und Maßnahmen verabschiedet, macht sich nicht nur selbst angreifbar – sondern facht die ohnehin aufgebrachte Stimmung im Land unnötig weiter an."

Vergleichbares berichtet auch der WDR aus Nordrhein-Westfalen:

Seit Wochen beruhigt Gesundheitsminister Laumann: NRW habe beim Boostern schon "90 Prozent der Altenheime geimpft". Doch das stimmt so nicht. Inzwischen will Laumann es ganz anders gemeint haben. (…)

Landesweite Zahlen zu bekommen, ist schwierig. Denn wo eine Impfung erfolgt, wird nicht mehr erfasst. Die Hausärzte melden ans RKI lediglich die Altersgruppen. Die Folge: Niemand weiß ganz genau, wie viele Menschen in den Heimen schon geboostert sind. (…) Das NRW-Gesundheitsministerium erklärte auf Anfrage, dass es keine aktuellen Zahlen für Mitte Dezember habe.

WDR

Es gibt auch Beispiele der Verzerrung, die in die gegenteilige Richtung weisen: In Köln kam es beispielsweise wochenlang zu einer Meldung deutlich zu niedriger Infektionszahlen. Zu Recht spricht der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit insgesamt von einer "Datenerhebungskatastrophe".

Besonders wichtig, um eine solide Datenlage zu erreichen, wäre eine repräsentative Kohortenstudie gewesen. Aber nach Meinung von Gert Antes wurde "konsequent verhindert, eine repräsentative Kohortenstudie zu erstellen – eine Studie, mit deren Hilfe man ganz Deutschland durch eine repräsentative Gruppe aus 40.000 bis 60.000 Menschen hätte abbilden können. Man hätte von all diesen Menschen regelmäßig die notwendige Anzahl an Proben nehmen können, um so zu begreifen, was im zeitlichen Verlauf in der Gesamtbevölkerung passiert. Das aber ist nicht wirklich geschehen. Und da, wo eine solche Studie begonnen wurde, ist sie – ich muss es leider so hart sagen – gegen die Wand gefahren worden".

Eine wirklich solide Datenbasis existiert eigentlich leider immer noch nicht.

Prioritäten

Mit einiger Berechtigung lässt sich sagen, dass eine allgemeine Impfpflicht kaum "angemessen" und "erforderlich" ist. Da zudem andere Lösungen noch nicht ausgeschöpft sind, wird also auch aktuell nicht der Forderung des WHO-Regionaldirektors für Europa entsprochen: Politiker, die die allgemeine Impfpflicht fordern, müssten belegen, dass sie "angemessen" sowie "erforderlich" ist und dass alle anderen möglichen Lösungen bereits versucht worden sind. Diese Darlegungen fehlen bisher.

Wenn aber die Erhaltung des Gesundheitssystems das Ziel der Politik ist, dann gibt es offensichtlich zumindest eine "angemessene" und "erforderliche" Lösung, die zudem vermutlich auch kurzfristigere Veränderungen herbeiführen kann und keine mittelfristigen Wirkungen wie die allgemeine Impfpflicht, die sich erst dann bemerkbar machen wird, wenn die Omicron-Variante vermutlich der Vergangenheit angehört: die nachhaltige Verbesserung der Arbeitssituation in den Krankenhäusern. Darauf sollte man sich einigen können. Auch ohne Spaltung der Gesellschaft.

Der vierte Teil dieser Artikelserie wird den Fokus auf den Aspekt des Vertrauens in die Regierung sowie vertrauensbildenden Maßnahmen richten, bevor der fünfte und abschließende Teil sich der Polarisierung der Gesellschaft widmet.