Abstiegsgesellschaft?
Seite 2: "Doppelcharakter des Liberalismus"
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Sie untersuchen in Ihrem Buch die "regressive Moderne". Was hat es damit auf sich und was sind die Auswirkungen auf den Menschen?
Oliver Nachtwey: Bei der "regressiven Modernisierung" geht es um die Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Rückschritt. Im Nachkriegskapitalismus ist es gelungen, einen generellen Anstieg des sozialen Niveaus für die Arbeiterschaft durchzusetzen, aber gleichzeitig gab es auch sehr starke Hierarchien und autoritäre Strukturen, zum Beispiel was das Frauenbild, den damals sehr stark institutionalisierten Rassismus, die Homophobie et cetera angeht.
Es gab diese autoritären Strukturen auch in den Fabriken, in denen die Sirene noch dröhnte und der Vorarbeiter Befehle erteilte. In allen diesen Feldern wurde durch die neuen sozialen Bewegungen eine wirksame Kritik laut und diese Bewegungen waren sehr erfolgreich darin, gesellschaftliche Liberalisierungen, z.B. für Frauen auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen: Zwar gibt es immer noch den gender pay gap, trotzdem hat sich die Arbeitsmarktsituation von Frauen in den letzten Jahren immens gebessert.
Auch werden wir seit mehr als zehn Jahren von einer Frau regiert, wir haben eine Verteidigungsministerin, hatten einen homosexuellen Außenminister, einen Wirtschaftsminister mit Migrationshintergrund, das wäre in dieser Form vor dreißig Jahren in Deutschland nicht möglich gewesen. Aber gleichzeitig hat man diesen gesellschaftlichen Liberalisierungskurs mit der Deregulierung der Schutzrechte auf dem Arbeitsmarkt verbunden, was den Doppelcharakter des Liberalismus auszeichnet. Ich nenne das die Gleichzeitigkeit von horizontaler Gleichstellung und neuen vertikalen Ungleichheiten: Wir haben zwar mehr Gleichberechtigung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, aber auch gleichzeitig mehr Ungleichheit zwischen den sozialen Klassen. Gerade in der Gruppe der Frauen gibt es die größten sozialen Unterschiede. Das ist ein gutes Beispiel für die regressive Modernisierung: Ein gesellschaftlicher Fortschritt, der den Rückschritt in sich trägt.
Inwiefern können die Reformen der "Agenda 2010" als exemplarisch für die "regressive Moderne" gelten?
Oliver Nachtwey: Die Verteidiger dieser Reformen argumentieren stets so, dass zwar Arbeitsnehmerrechte abgebaut wurden, aber dadurch die Schranken für andere Gruppen auf dem Arbeitsmarkt abgebaut worden wären, z.B. bei der Deregulierung der Handwerksordnung. Über die Deregulierung der Leiharbeit wäre etwa eine größere Arbeitsmarktintegration ermöglicht worden. Es wären, so die Argumentation, so neue Teilhabechancen auf dem Arbeitsmarkt geschaffen worden.
"Man hat gezielt einen Niedriglohn-Sektor geschaffen"
Gab es überhaupt mit der Agenda 2010 die positiven Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt, von denen man seinerzeit visioniert hat?
Oliver Nachtwey: Soweit ich es sehen kann, gibt es keine Studie, die für sich reklamieren kann, sie habe signifikante positive Effekte der Agenda 2010 für den Arbeitsmarkt nachgewiesen, die über eine bessere Organisation der Vermittlungsleistung hinausgehen. Allerdings gab es wahrscheinlich ein paar Effekte, die jedoch keinen Erfolg darstellen. Es werden mehr Menschen gezwungen, eine Beschäftigung anzunehmen, die nicht ihrer Qualifikation entspricht. Man hat gezielt einen Niedriglohn-Sektor geschaffen, um damit die Kostenkalkulation für Unternehmen, die auf dem Weltmarkt aktiv sind, zu verbessern und dadurch wurde auch für diese Firmen eine bessere Wettbewerbssituation erzeugt.
Der ökonomische Erfolg Deutschlands hat zumindest aus meiner Sicht mehr mit einer ricardianischen Konstellation zu tun, nämlich dass durch die Arbeitsteilung in der Globalisierung bestimmte Produkte, zum Beispiel im Maschinenbau, auf den die deutsche Industrie ja spezialisiert ist, gerade in den Bric-Staaten wie China sehr gefragt sind. Durch das Euro-Regime innerhalb der EU, wo es keine internen Abwertungen über die Währung geben kann, war Deutschland in der Lage, sich über diese interne Lohnsenkung sehr wettbewerbsfähig zu machen und anderen Ländern ist es schwergefallen, hier nachzuziehen.
"Der Lebensstil wird wieder zur Klassenfrage"
Ist es möglich, dass in Zukunft der Diskurs um Ökologie und Nachhaltigkeit dazu benutzt wird, weiteren Sozialabbau moralisch zu legitimieren?
Oliver Nachtwey: Gibt es derlei nicht bereits in Miniaturform? Die politische Phrase "wir alle müssten nun den Gürtel enger schnallen" lässt sich nicht nur auf das Soziale, sondern auch auf das Ökologische anwenden. Beim Flug ins Ausland können die Gutverdienenden den CO2-Ausgleich problemlos zahlen, der schlecht verdienende Teil der Bevölkerung kann sich das nicht leisten. Wird aus der moralischen Anrufung nachhaltig zu leben ein staatlich sanktioniertes Dispositiv, dann wird die Fernreise wieder zum Privileg der Begüterten.
Heutzutage gibt es viele Möglichkeiten für eine nachhaltige Lebensführung, die sich ohnehin nur diejenigen leisten können, die gutes Geld verdienen. Der Lebensstil wird damit verstärkt wieder zur Klassenfrage. Damit wird die Marginalisierung unterprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen nicht ausschließlich über direkte politische Einflussnahme betrieben, sondern man wirft den Unterklassen vor, dass sie nicht die nötige Disziplin verfüge, beziehungsweise dass ihnen das korrekte ökologische Bewusstsein fehle.
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