Abtreibung und Armut
USA: Die Abtreibungsdebatte ist mehr als ein Kulturkampf. Niemand sollte gezwungen sein, ein Kind in Armut großzuziehen
Seit der Veröffentlichung eines von Richter Alito vorbereiteten Arguments zum Kippen des Verfassungsschutzurteils "Roe v. Wade" treibt der Diskurs um die Abtreibungsfrage in den USA seltsame Blüten.
Die liberalen Medien interessierten sich zunächst nicht so sehr für die moralische Frage als vielmehr dafür, wer das Argument geleakt habe, und ob das Prestige des US-Verfassungsgerichts hierdurch nicht Schaden genommen habe. Als Demonstrant:innen ankündigten, vor den Häusern konservativer Verfassungsrichter zu protestieren, kam zudem die Frage auf, inwiefern so etwas mit dem demokratischen Grundsatz der Trennung öffentlicher und privater Sphäre vereinbar sei.
Solche Diskussionen verstehen den Supreme Court als eine außerpolitische Institution, die in ihrer Arbeit nicht gestört werden darf. Doch das Verfassungsgericht ist ein rein politisches Organ, das entweder durch die eine oder andere Seite im US-amerikanischen Kulturkampf dominiert wird.
Da die Ernennung zum Obersten Gerichtshof durch den Präsidenten erfolgt, unterliegt das Gericht damit angeblich dem Willen der Wählerschaft. Demokratisch sind die Entscheidungen dieses Obersten Gerichtshofes deshalb noch lange nicht, zumindest nicht mit Blick auf die 80 Prozent der US-Bevölkerung, die, laut einer Umfrage im Mai 2021, das Recht auf Abtreibung in allen oder den meisten Fällen unterstützen.
Doch welche Teile der Bevölkerungen wären am stärksten von einer Änderung in der Gesetzeslage betroffen?
In den USA ist die Abtreibungsdebatte auch durch die Frage nach "ökonomischer Gerechtigkeit" bestimmt. Abtreibungen sind oft vordergründig unter dem Gesichtspunkt akzeptiert, dass niemand gezwungen sein sollte, ein Kind in Armut großzuziehen. Die konservative Partei in dem Rechtsstreit um "Roe vs. Wade" argumentiert, dass die Entscheidung und ein späterer Fall des Obersten Gerichtshofes, der Roe 1992 bestätigte - "Planned Parenthood v. Casey" – für Frauen und Eltern einfach nicht mehr relevant seien. "Der Fortschritt hat Roe und Casey hinter sich gelassen" heißt es in dem Schriftsatz.
Mit dieser Meinung sind die konservativen Kräfte des Supreme Courts nicht allein, auch selbst ernannte "pro-life" Feministinnen behaupten, "es gebe keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Abtreibungen und der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit von Frauen."
Das ist schlicht falsch, denn in einem Land, in dem die soziale Schere so weit auseinander geht wie den USA, ist das Recht und die Möglichkeit zur Abtreibung stark mit den ökonomischen Umständen verknüpft.
Laut einer Studie des Guttmacher Instituts lebten 2014 49 Prozent der Abtreibungspatientinnen unter der Armutsgrenze. Die Umfragewerte sind alt, wurden aber laut New York Times seitdem durch mehrere kleinere Studien bestätigt.
In der gleichen Studie gibt das Guttmacher Institut an, dass Schwarze Frauen, 2014 mit einer Abtreibungsindex von 1,9 (28 Prozent aller Abtreibungen) deutlich überrepräsentiert waren, hispanoamerikanische Frauen hingegen weniger (1,2). Zum Vergleich: Der Abtreibungsindex von weißen Frauen liegt bei unterdurchschnittlichen 0,7.
Gerade diese Gruppen, vor allem Frauen mit geringem Einkommen, wären besonders betroffen, würde das Recht auf Abtreibung Sache der Bundesstaaten. Denn die meisten Bundesstaaten, die bereits Abtreibungsbeschränkungen erlassen haben, befinden sich im Süden und im Mittleren Westen der USA, in den Regionen also, in denen es besonders viele Niedriglohnempfänger gibt.
Diese Arbeitnehmerinnen werden mit den größten Hindernissen für eine Abtreibung konfrontiert, da es ihre finanzielle Lage möglicherweise nicht zulässt, in andere Bundesstaaten zu reisen, um sich dem Eingriff zu unterziehen.
Da obendrein die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den USA zu wünschen übrig lassen, müssen die Betroffenen schon jetzt nicht nur über die Zeit, sondern auch über den finanziellen Spielraum verfügen, um diese Option in Betracht zu ziehen. Für diejenigen, die aus ökonomischen oder anderen Zwängen dazu genötigt werden, eine ungewollte Schwangerschaft auszutragen, vervierfacht sich, laut einer Studie zwischen 2008 und 2010, die Wahrscheinlichkeit ein Leben unter der Armutsgrenze fristen zu müssen.
Die Debatte ist folglich komplizierter als "pro-choice" versus "pro-life", denn auch wenn ein Großteil der Amerikanischen Bevölkerung das Recht auf Abtreibung unterstützt, sind es die marginalisierten Gruppen der unteren Schichten, die eine Änderung der Gesetzgebung am stärksten zu spüren bekommen würden.
Nicht nur, weil sich diese Gruppen dem medizinischen Eingriff überdurchschnittlich oft unterziehen, sondern auch, weil Austragen ungewollter Schwangerschaften dank mangelnder sozialer und staatlicher Unterstützung zum Armutsgarant wird.
Die Illegalisierung von Abtreibung würde indirekt dazu beitragen, dass marginalisierte Gruppen, besonders schwarze Frauen, zu Gefangenen ihrer sozioökonomischen Situation werden. Auf eine gewisse Weise ist der Kulturkampf hier also auch Klassenkampf. Dieser kennt in den USA bekanntermaßen oft nur eine Richtung: die von oben nach unten.