Adieu, "Deutsche Einheit": Stimmung laut Umfrage deutlich gekippt
Für 60 Prozent der Befragten überwiegt nach 33 Jahren das Trennende. 43 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich als "Bürger zweiter Klasse". Woran das real festzumachen ist.
Knapp 33 Jahre nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland ist die Kluft zwischen Ost und West wieder gewachsen: Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für den stern sagen heute 60 Prozent der Deutschen, dass das Trennende überwiegt. Nur 37 Prozent meinen, dass Ost- und Westdeutsche inzwischen weitgehend zu einem Volk zusammengewachsen sind; drei Prozent konnten oder wollten dazu nichts sagen.
2019 hielt noch eine knappe Mehrheit von 51 Prozent die "deutsche Einheit" für weitgehend vollzogen oder sah das Zusammenwachsen auf einem guten Weg – für 45 Prozent dominierte damals schon das Trennende. Ähnlich negativ wie heute waren die Einschätzungen zuletzt im Jahr 2008 – regelmäßig wiederholt wird die Umfrage seit zwei Jahrzehnten.
Aktuell ist die Stimmung in Ostdeutschland deutlich schlechter als in Westdeutschland: Für 75 Prozent überwiegt hier das Trennende. Nur 21 Prozent auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sind optimistisch, was das Zusammenwachsen betrifft.
Nur FDP-Wähler ziehen überwiegend positive Bilanz
Nach Parteienpräferenz sind Anhänger der wirtschaftsliberalen FDP die einzige Gruppe, in der mehr Menschen eine positive Bilanz ziehen – allerdings tun dies auch in dieser Gruppe nur 48 Prozent, während 46 Prozent vor allem das Trennende sehen und der Rest sich nicht äußert. Hinzu kommt, dass die FDP laut aktueller "Sonntagsfrage" bundesweit nur noch mit 6,5 Prozent der Stimmen rechnen kann. In ostdeutschen Bundesländern liegt sie teilweise bei weniger als fünf Prozent.
Laut einer anderen Umfrage, die kürzlich von Infratest dimap durchgeführt wurde, fühlen sich 43 Prozent der Ostdeutschen im "wiedervereinigten" Deutschland auch nach 33 Jahren als "Bürger zweiter Klasse".
Dass sie Benachteiligung nicht nur gefühlt, sondern auch bezifferbar ist, zeigt nicht nur ein Bericht zur Einkommenssituation im Jahr 2022: Die Menschen in Ostdeutschland verdienten brutto im Schnitt rund 13.000 Euro weniger. Im Westen lag das jährliche Bruttogehalt im Durchschnitt bei 58.085 Euro, im Osten bei 45.070 Euro. Die Differenz fiel damit größer aus als im Vorjahr.
Hinzu kommt, dass es nach wie vor kaum Ostdeutsche in Spitzenpositionen gibt: Forschende zählen im "Elitenmonitor" einige Tausend Menschen zur Elite Deutschlands – gemeint sind Personen mit wirtschaftlicher und politischer Macht – nicht nur solche, die gewählt werden, sondern auch Konzernchefs und Spitzenpersonal in Behörden und großen Medien. Überall sind Westdeutsche überproportional vertreten.
Der Anteil gebürtiger Ostdeutscher an der Gesamtbevölkerung beträgt rund 20 Prozent, in den Eliten aber nur 12,2 Prozent. Nur in der Politik sind sie demnach angemessen repräsentiert. Im Bereich Verwaltung finden sich nur 14 Prozent Ostdeutsche in Spitzenpositionen. In den Medien sind es sogar jeweils nur rund acht Prozent, in der Wissenschaft 4,3 Prozent.
Die Wohneigentumsquote liegt im Osten zwar ohnehin unter der in Westdeutschland; aber wer noch ein Eigenheim hat, muss im Osten bei notwendigen oder vorgeschriebenen Modernisierungen oft knapper kalkulieren. Insofern barg hier auch die Debatte um das Heizungsgesetz noch einmal mehr sozialen Sprengstoff.
Hinzu kommt, dass "Ostbeauftragte der Bundesregierung" in den vergangenen Jahren häufig Ostdeutsche als Problembären in Sachen Demokratie dargestellt haben – auch schon vor dem aktuellen Höhenflug der AfD in den Umfragen.
"Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind", sagte der damalige Ostbeauftragte Marco Wanderwitz im Mai 2021 dem "F.A.Z.-Podcast für Deutschland".
Auf Nachfrage der Nachrichtenagentur dpa sagte der gebürtige Sachse und CDU-Politiker kurz darauf, viele Ostdeutsche hegten eine "vertiefte Grundskepsis" gegenüber der Politik und der Demokratie.
Wo Rechtspopulismus auch im Westen zieht
Aktuell ist unbestreitbar, dass die ultrarechte AfD in manchen ostdeutschen Bundesländern bei über 30 Prozent in den Umfragen liegt. Ob dies aber auf eine "Diktatursozialisation" aus DDR-Zeiten zurückgeführt werden kann, ist nach 33 Jahren mehr als fragwürdig.
Nicht nur, weil vor bald 20 Jahren im Zuge der "Arbeitsmarktreformen" der Agenda 2010 protestierenden Ostdeutschen vermittelt wurde, sie sollten nicht "jammern", weil Freiheit und Demokratie eben nicht mit sozialer Sicherheit zusammengingen – das allein widerspräche ja nicht dem Programm der AfD, die weiteren Sozialabbau betreiben will und nur allzu gern antikommunistische Phrasen drischt.
Allerdings konnten die Ostdeutschen in den letzten Jahrzehnten beobachten, dass friedliche Sozialproteste im wiedervereinigten Deutschland eben nicht zum Einlenken der Politik führen, gewaltsame Proteste gegen Asylsuchende aber zu Asylrechtsverschärfungen.
Aktuell fällt aber auch auf, dass im westdeutschen Bundesland Bayern die AfD zwar "nur" bei 13 Prozent liegt, aber ein zunehmend rechtspopulistisches Auftreten des Freie-Wähler-Chefs Hubert Aiwanger und Berichte über dessen stramm rechte Gesinnung in jungen Jahren dazu geführt haben, dass seine Partei in Umfragen aufstieg. AfD und Freie Wähler liegen in Bayern zusammen auch bei rund 30 Prozent.