Ägypten: "Seit 1977 keine Zukunftsperspektive für die Jugend"
- Ägypten: "Seit 1977 keine Zukunftsperspektive für die Jugend"
- Ungebremstes Bevölkerungswachstum
- Wassermangel und verstopfte Kanäle
- Informelle Abfallwirtschaft recycelt 85 Prozent des eingesammelten Mülls
- Konflikte wegen des Staudamms im Norden Äthiopiens
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Massives Bevölkerungswachstum und soziale Ungleichheit sind schier unlösbare Probleme, aber das Land ist erstaunlich anpassungs- und widerstandsfähig
Im Januar 1977 erschütterten sogenannte "Brotunruhen" das wirtschaftlich angeschlagene Ägypten. Kurz zuvor hatte Präsident Anwar Al-Sadat staatliche Subventionen auf Grundnahrungsmittel und Treibstoffe senken lassen und damit den Forderungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) nachgegeben.
Doch nach zweitägigen Ausschreitungen zwischen aufgebrachten Demonstranten und der Polizei, bei denen landesweit über 70 Menschen getötet und rund 1.000 verhaftet wurden, sah sich Sadat gezwungen, die Kürzungen zurückzunehmen und die Verhandlungen mit dem IWF über einen Kredit in Höhe von 300 Millionen US-Dollar scheitern zu lassen. Die Regierung wandte sich stattdessen an die Golfstaaten, um das ausufernde Haushaltsdefizit im Griff behalten und ausstehende Schulden begleichen zu können.
Anschaulich zusammengefasst werden die Unruhen und ihr sozioökonomischer Kontext in einer Ende der 1970er Jahre produzierten Reportage der Nachrichtenagentur AP. Die Parallelen zur heutigen Wirtschafts- und Budgetkrise im Land sind offensichtlich.
Erschreckend an dem Film sind jedoch nicht nur die Ähnlichkeiten zwischen der 1977 und heute ebenso anspannten sozialen Lage, sondern die Beschreibungen urbaner und demographischer Entwicklungen in der ägyptischen Gesellschaft, die am Beispiel Kairos eindrucksvoll illustriert werden.
Seit Ende der 70er: Am Rande des Kollaps'
Der Film könnte fast unverändert und nur mit neueren Daten versehen auch heute ausgestrahlt werden. An Aktualität hat kaum ein hier aufgeworfener Aspekt verloren. Kairo stehe Ende der 1970er am Rande des wirtschaftlichen Kollaps', heißt es.
Die in ländlichen Regionen verbreitete Subsistenzwirtschaft biete vor allem der Jugend des Landes keine Zukunftsperspektive. Kairo wachse angesichts der Landflucht jährlich um rund 100.000 Menschen, die vom Arbeitsmarkt nicht absorbiert werden können und sich oft als informelle Straßenhändler durchschlagen müssen.
Für die einkommensschwache Bevölkerung seien nur Obst und Gemüse erschwinglich. Selbst Grundnahrungsmittel wie Zucker, Mehl und Speiseöl müssten subventioniert werden. Auch in Sachen Nahverkehr und Bevölkerungsdichte wird ein düsteres Bild der Lage geschildert:
3,5 Millionen Passagiere bewegen sich täglich im öffentlichen Verkehr, oder sie versuchen es. Aber das System ist derart überlastet, dass Fahrten durch die Stadt bis zu drei Stunden dauern, meist unter äußerst erschöpfenden Konditionen.
AP
AP verweist zudem auf das in den informellen Vierteln immer wieder zusammenbrechende und als marode geltende Wasser- und Abwassersystem, die begrenzte landwirtschaftlich nutzbare Fläche entlang des Nils und eine geschätzte Bevölkerungsdichte in Kairos informellen Siedlungen von bis zu 100.000 Menschen pro Quadratkilometer. Das Bevölkerungswachstum liege bei 1,5 Millionen Menschen pro Jahr und sei die größte Bedrohung von Ägyptens wirtschaftlicher Zukunft, so AP.
Bevölkerungswachstum: Bis zu zwei Millionen Menschen jährlich
Heute wächst das Land sogar um bis zu zwei Millionen Menschen pro Jahr. Die Bevölkerung ist von damals rund 40 Millionen auf über 96 Millionen Menschen angewachsen. Rund 800.000 junge Menschen strömen jährlich zusätzlich auf den Arbeitsmarkt, der nicht ansatzweise mit dem Bedarf mithalten kann.
Selbst Akademikerinnen und Akademiker finden kaum noch Beschäftigung, verlassen wenn möglich das Land oder müssen sich im informellen Sektor durchschlagen. Auch heute sind fliegende Händlerinnen und Händler ein fester Bestandteil des Straßenbildes.
Die schiere Masse an Menschen, die vom informellen Verkauf von Taschentüchern, Haushaltsutensilien oder billiger Plastikware lebt, ist im Zuge der anhaltenden Wirtschaftskrise weiter gestiegen. Die Bevölkerung im Großraum Kairo ist derweil von damals rund zehn auf heute 23 Millionen angeschwollen und wachse neuen Schätzungen zufolge um rund 500.000 Menschen pro Jahr. Keine andere Stadt der Welt ist mit derartigen Wachstumsraten konfrontiert.
Konsequente Ignoranz und Inkompetenz
Im Umkehrschluss bedeutet das aber, dass sämtliche seit den 1970er Jahren an der Macht gewesene Regimes diese öffentlich bekannten Strukturprobleme sowie Dynamiken innerhalb der ländlichen Gesellschaft konsequent ignoriert und trotzdem weiterhin auf eine neoliberale, die Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung forcierende Wirtschafts- und Sozialpolitik gesetzt haben, die das Land heute vor schier unlösbare Herausforderungen stellt.
Sadat oder Ägyptens 30 Jahre lang regierender Expräsident, Hosni Mubarak, aber auch die kurzzeitig an die Macht gespülte Muslimbruderschaft und der amtierende autoritär regierende Präsident Abdel Fattah Al-Sisi - sie alle setzten auf das Verwalten und Aussitzen sozioökonomischer, demographischer und urbaner Entwicklungen und zeigten sich unfähig, inkompetent oder nicht willens, nachhaltigen Steuerungsinstrumenten eine Chance zu geben und damit langfristig ein ökologisch-soziales Gleichgewicht anzustreben.
Erstaunlich anpassungs- und widerstandsfähig
Zwar prophezeite AP schon 1977 einen bevorstehenden Kollaps, das Land zeigt sich jedoch trotz Bevölkerungszuwachs, Wohnraum- und Wassermangel sowie der eklatanten sozialen Ungleichheit erstaunlich anpassungs- und widerstandsfähig.
Während sich die Regierung bis heute scheut, adäquat gegenzusteuern und weite Teile der Bevölkerung sich selbst überlässt, ist die informelle Selbstorganisation einer auf sich allein gestellten marginalisierten Masse bemerkenswert.
Heute jedoch stoßen die Kapazitäten des Nils, der 95 Prozent des Wasserverbrauchs im Land bereitstellt, an ihre Grenzen. Ob Ägypten und dessen natürliche Ressourcen weitere 40 Jahre lang derartige Bevölkerungszuwächse absorbieren können, ist hochgradig fraglich.
Umso dringender ist heute eine politische Steuerung, die sich der demographischen Entwicklung und der sozioökonomischen Ungleichheit annimmt und damit angesichts der fortschreitenden Versalzung des Nildeltas und der sich verschärfenden Wasserknappheit Vorsorge- und Vorsichtsmaßnahmen trifft.
Doch vor allem in Sachen Bevölkerungswachstum ist das einfacher gesagt als getan.