AfD-Wahlerfolg: Demokratie braucht Demokraten – doch was zeichnet solche aus?

Demokratie kann nicht verordnet werden. Vor allem nicht mit widersprüchlichen Signalen von oben. Bild: Unrated Studio / Pixabay Licence

Wie konnte das passieren? Demontage des Sozialstaats und verschärfte Leistungskonkurrenz sind kein Nährboden für solidarisches Verhalten. Wie sich die eingepresste Bosheit entlädt und warum.

Robert Sesselmann hat sich im Thüringer Kreis Sonneberg in der Stichwahl für das Amt des Landrats gegen den CDU-Kandidaten durchgesetzt. Damit stellt die AfD erstmals in Deutschland einen Landrat. Ich erinnerte mich, dass schon einmal in Thüringen eine derartige Premiere stattfand. Im Jahr 1930 wurde Wilhelm Frick in einer Koalitionsregierung Staatsminister für Inneres und Volksbildung und somit der erste Minister der NSDAP während der Weimarer Republik.

Eine Parallele, die nicht viel besagen muss, aber möglicherweise kann. Das erschließt sich erst im Nachhinein. Dennoch sollten wir den Sieg von Herrn Sesselmann nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Linke Hilflosigkeit

Und wie reagiert die Partei Die Linke? Ihr Ko-Vorsitzender Martin Schirdewan gab am Tag nach der Wahl zu Protokoll: Der Wahlerfolg des AfD-Kandidaten sei ein "Alarmsignal für die Demokratie". Weiter sagte er: "Wir müssen jetzt ganz genau darüber nachdenken, wie man Demokratie stärken kann an dieser Stelle." Im Übrigen erzeuge die Politik der Ampel-Koalition große Unzufriedenheit, welche die Rechten für sich nutzten könnten. Also die alte Leier von den Protestwählern.

Warum wendet sich der Protest nicht im nennenswerten Umfang nach links, müssten sich die Linken dringend fragen. Müsste der Protest und der Frust der kleinen Leute nicht gerade bei der Linken eine Heimat finden? Seit den ersten Wahlerfolgen der AfD – und auch schon anderer rechtsradikaler Parteien zuvor – versuchen wir uns mit dem Argument zu beruhigen: "Ach so, es handelt sich nur um Protestwähler, bei der nächsten Wahl kehren sie brav zu den demokratischen Parteien zurück!"

Wir müssen uns fragen: Warum drohen deutsche Wählerinnen und Wähler, wenn sie unzufrieden sind und sich von den demokratischen Parteien nicht hinreichend repräsentiert fühlen, gleich mit der Abschaffung der Demokratie? Sie könnten doch auch – und besser – mit an ihrer Vollendung antworten, mit wahrhaft gelebter Demokratie, die jene utopischen Überschüsse, die ihr von Anbeginn als Versprechen innewohnen, endlich einlöst.

Wer unzufrieden ist mit den herrschenden Zuständen, könnte doch auch zum Revolutionär werden. Vielleicht müssen wir die bittere Wahrheit zur Kenntnis nehmen: Unter einem dünnen Firnis angepassten Verhaltens existiert in diesem Land nach wie vor ein bedrohliches faschistoides, antidemokratisches Potenzial, das offenbar die AfD für sich nutzen kann.

Was für hilflose Sprechblasen vom Sprecher der Linken! Die Demokratie stärken lautet seine Antwort auf das Desaster von Sonneberg. Demokratie lässt sich nicht von oben dekretieren, sie muss von unten her gelebt und praktiziert werden. Und vor allem braucht es Demokratinnen und Demokraten, ohne die eine Demokratie natürlich nicht funktionieren kann. Was aber ist ein Demokrat? Wodurch zeichnet er oder sie sich aus? Über welche Eigenschaften muss er oder sie verfügen?

Demokratie und Sozialisation

Demokratisch ist ein Mensch nicht bloß im Kopf, sondern auch innen, von den Gefühlen her. Was für einer Ideologie man anhängt, welche Philosophie man hat, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Damit, schrieb Oskar Negt, "sind nicht zufällige Merkmale des empirischen Charakters gemeint, sondern die Reflexions- und Erfahrungsfähigkeit des Subjekts, die auch ein Produkt seiner Sozialisationsgeschichte ist".

Demokratische Einstellungen und Haltungen wird man eher bei Menschen finden, die unter hinreichend guten Bedingungen aufgewachsen und mit sich befreundet sind. Wer das Verschiedene in sich selbst akzeptiert, wird es auch draußen akzeptieren können. Demokratie ist keine Gesinnungsgemeinschaft von Gleichen, sondern eine Gesellschafts- und Lebensform, die die Entfaltung von Verschiedenheit und den geregelten Austrag von Konflikten ermöglichen soll.

Die psychischen Voraussetzungen der Demokratie bestehen in einer, wenn nicht bei allen, aber doch bei einer Mehrheit anzutreffenden Ich-Stärke, die vor allem die Fähigkeit beinhaltet, mit Ambivalenzen, Schwebezuständen, offenen Fragen und Konflikten umgehen zu können.

Diese reifen, dialektischen Ich-Funktionen, die Menschen befähigen, unlösbare Widersprüche prüfend in der Schwebe zu belassen, Dissens und Verschiedenheit zu ertragen, nach Kompromiss und vernünftigem Ausgleich zu suchen, stehen auf dem Spiel, wenn Massen von Menschen unter dem Druck von Angst und aufkeimender Wut auf einfachere Mechanismen der psychischen Regulation zurückgreifen.

Das ursprünglich schwache Ich gewinnt seine Stärke erst aus einem nicht-selektiven Umgang mit einer ambivalenten Umgebung. Unter Spannung und Stress droht das Ich auf die Ebene archaischer Spaltungen zurück zu fallen. Auch unter durchschnittlichen Erwachsenen bleibt das Bedürfnis wirksam, unerträgliche Spannungszustände und kognitive Dissonanzen durch Spaltung und Projektion zu entschärfen.

Dialektische Ich-Funktionen

Über welche Eigenschaften und Fähigkeiten muss ein demokratischer Mensch also verfügen? Es sind dies: die Entwicklung reifer, dialektischer Ich-Funktionen, Ambivalenz-Toleranz, Sublimierungs- und Symbolisierungsfähigkeit, kritisches, selbstständiges Urteilsvermögen, Differenzierungsfähigkeit, Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Distanz zum Bereich der privaten Gefühle und Affekte, zu Triebbedürfnissen, die Fähigkeit zur Kompromissbildung, eine weitgehende Vorurteilsfreiheit.

Max Horkheimer sagte einmal über das Vorurteil: "Aus der Verkürzung des Gedankens, die ein Mittel bei der Erhaltung des Lebens ist, wird es zum Schlüssel, eingepresste Bosheit loszulassen." Vor allem muss also eine demokratische Gesellschaft daran arbeiten, den Angst- und Panikpegel abzusenken, indem sie Arbeits- und Lebensverhältnisse herstellt, die den Menschen weniger "Bosheit einpressen" und die Entwicklung und Aufrechterhaltung dialektischer Ich-Funktionen begünstigen.

Der Sozialstaat, dessen Demontage im Namen des Neoliberalismus seit einigen Jahrzehnten betrieben wird, bedeutet immer auch Begrenzung menschlicher Not und Existenzangst durch die Bereitstellung von solidarischen Netzen, die einen Menschen auffangen, wenn er aus der Welt zu fallen droht.

Entfesselten Leistungskonkurrenz und ihre Folgen

Eine Gesellschaft, die sich voll und ganz dem Markt und seinen Funktionsimperativen ausliefert, die es zulässt, dass in einer entfesselten sozialdarwinistischen Leistungskonkurrenz immer mehr ältere, psychisch und mental "unflexible" und instabile Menschen als unbrauchbar auf der Strecke bleiben, die massenhaft indentitätsbedrohende Entwurzelungen produziert, bereitet den Boden dafür, dass sich unter dem Firnis der Anpassung Hass und Ressentiments ansammeln.

Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, was mit den Hass- und Brutalisierungsmaschinen zu tun ist, die euphemistisch Soziale Medien genannt werden. Sie schlagen ihren Profit aus der Verweildauer der Nutzer auf der jeweiligen Plattform. Und was sie am längsten dort hält, sind Angst, Hass, Häme und Niedertracht. Das sind nicht gerade demokratiefördernde Emotionen.

Dort verbreiten sich antidemokratische Einstellungen und Ressentiments in einer Breite und Geschwindigkeit, von der frühere Diktatoren nur träumen konnten. Warum sollte eine demokratische Gesellschaft Medien sponsern und am Leben erhalten, die ihr nach dem Leben trachten und ihre Funktionsprinzipien unterminieren?

Gegen die Dummheit scheint kein Kraut gewachsen, aber man muss sie nicht noch düngen und fördern. Man sollte stattdessen die Bedingungen stärken, die kritisches Urteilsvermögen und Differenzierungsfähigkeit gedeihen lassen.