Afghanistan: Separatismus und Warlordismus
Teil 2: Superlative des "failed state"?
Vor einigen Tagen kam es abermals zu Tumulten im afghanischen Parlament, in dem ohnehin fast regelmäßig aufgeheizte und emotionale Debatten stattfinden. Als der Abgeordnete Abdul Latif Pedram aus der nördlichen Provinz Badakhshan von Chauvinismus und Faschismus sprach und sich damit explizit an eine Bevölkerungsgruppe, nämlich die Paschtunen, richtete, flogen wortwörtlich die Fetzen. Mehrere paschtunische Abgeordnete erhoben sich und griffen Pedram verbal und physisch an.
Pedrams Ansprachen erhitzen regelmäßig die Gemüter. Der tadschikische Politiker gehört nicht nur zu den schärfsten Kritikern der Kabuler Regierung, sondern stellt Grundsätzliches in Frage. Die Bewegung, die sich in den letzten Jahren um Pedram geschart hat, besteht hauptsächlich aus den Minderheiten Afghanistans, allen voran Tadschiken, die der ehemaligen Nordallianz nahestehen. Pedrams jüngste Kritik war zugunsten der Hazara-Minderheit in der Provinz Ghazni, die sich im Kontext der anstehenden Parlamentswahlen von den dortigen Paschtunen unfair behandelt fühlt.
Der Paschunen-Mythos
Konkret geht es um den Vorwurf, dass lokale Paschtunen-Politiker ihre Macht sichern wollen, indem sie die Hazara-Wählerschaft in einem anderen Distrikt, der ohnehin von vielen Hazara bewohnt wird, abstimmen lassen wollen. Einfach ausgedrückt: Die Demografie wird kurzzeitig zugunsten der eigenen Vorherrschaft geändert. Pedram kritisierte das und holte dabei abermals weitaus, indem er die Herrschaft der Paschtunen im Land generell in Frage stellte.
Fast alle politischen Führer des modernen Afghanistans, ob nun Könige oder Präsidenten, sind ausnahmslos Paschtunen gewesen. Dies wird als Selbstverständlichkeit betrachtet, da man behauptet, die Bevölkerungsmehrheit zu sein.
Als der Einmarsch der USA im Jahr 2001 stattfand, wurde dies auch von den Amerikanern kaum in Frage gestellt. Da bis heute allerdings keine Volkszählung in Afghanistan stattgefunden hat, steht die Mehrheitsfrage weiterhin ungelöst im Raum.
Politiker wie Pedram gehen mit ihrer Kritik allerdings weiter. Sie stellen den afghanischen Nationalstaat an sich infrage und lehnen sogar den Staatsnamen ab. Pedram und seine Anhänger behaupten etwa, dass der Name "Afghanistan" nicht alle Ethnien des Landes repräsentiere, sondern ausschließlich die Paschtunen. Der Begriff "Afghane" wird hierbei als Synonym zu "Paschtune" betrachtet.
Als Lösung schlägt Pedram die Einführung des Namens "Khorasan" vor, denn so wurde die historisch-kulturelle Region Zentralasiens, die nicht nur das heutige Afghanistan, sondern auch Teile Irans, Tadschikistans, Usbekistans und Pakistans umfasste, genannt.
Dass Pedrams Vorstellungen speziell von den meisten Paschtunen abgelehnt werden, ist keine Überraschung. Kamal Naser Osuli, der Abgeordnete aus der Provinz Khost, bezeichnet Pedram regelmäßig als Populisten, der Zwietracht sät.
"Es kann doch nicht sein, dass Abgeordnete des afghanischen Parlaments ebenjenen Staat vollkommen ablehnen. Bei allem Respekt, aber warum sitzen Sie dann hier? Und woher kommen Sie?", meinte Osuli während einer jüngsten Parlamentsdebatte.
Der afghanische Nationalismus
Derart einfach lassen sich solche Debatten allerdings nicht lösen. Obwohl die Anhänger Pedrams nur von überschaubarer Anzahl sind und vor allem medial präsent zu sein scheinen, hat der afghanische Nationalstaat in seinem Fundament, wie viele andere postkoloniale Staaten, grundlegende Strukturfehler, die nie behoben wurden.
Die europäische Idee des Nationalstaates war mit den Realitäten in vielen dieser betroffenen Regionen schlichtweg nicht vereinbar und wurde von den Machthabern mit Gewalt durchgesetzt. Vorhandene Identitäten und Konzepte wurden verdrängt, während andere geschaffen wurden. In Afghanistan setzte sich vor allem ein paschtunisch dominierter Nationalismus durch, von dem sich andere Minderheiten bedroht fühlten.
Dies betraf vor allem die schiitische Hazara-Minderheit, die in der Anfangsphase des modernen Afghanistans sowohl Genozid als auch Massenvertreibungen hilflos ausgesetzt gewesen ist. Eine große Portion Verantwortung tragen auch die westlichen Kolonialmächte, allen voran Großbritannien, welches die Grenzen des heutigen Afghanistans gelegt hat und dabei wohlwollend von korrupten Herrschern in Kabul unterstützt wurde.
De facto könnten diese ungelösten Probleme Afghanistan eher zerbrechen lassen als jedwede aufständische Gruppierung wie Taliban oder IS. Während Pedram und seine Anhänger zum Teil sogar von Separatismus schwadronieren und davon überzeugt sind, ihre nördlichen Heimatregionen eigenständig ohne Kontrolle aus Kabul verwalten zu können, spielen auch bewaffnete Warlords eine wichtige Rolle.
Warlords
Präsident Ashraf Ghani hat in den letzten Monaten deutlich gemacht, gegen bestimmte Kriegsfürsten vorzugehen. Betroffen davon waren unter anderem etwa der Tadschike Noor Mohammad Atta, der langjährige Gouverneur der Provinz Balkh, sowie der Usbeke Abdul Rashid Dostum, Ghanis eigener Vizepräsident. Gegen Dostum steht ein Vergewaltigungsvorwurf im Raum, weshalb er das Land verlassen hatte und ins türkischen Exil ging. Kürzlich ist Dostum wieder nach Afghanistan zurückgekehrt.
Außerdem wurde Anfang Juli das Haus des Milizführers Nizamuddin Qaisari in der Provinz Faryab von afghanischen Sicherheitskräften gestürmt. Qaisari stammt aus dem engeren Dunstkreis Dostums. Seine Milizen, die de facto Dostum unterstehen, sind für zahlreiche Menschenrechtsverbrechen gegen Zivilisten bekannt.
Nachdem einige seiner Kämpfer verletzt und getötet wurden, wurde Qaisari, der selbst als lokaler Polizeichef agierte, verhaftet und nach Kabul gebracht. Daraufhin demonstrierten mehrere Tausend Anhänger Qaisaris in der Provinzhauptstadt Maimana und griffen Regierungseinrichtungen an. Mindestens zwei Menschen wurden bei den Ausschreitungen getötet.
Die Ethnienkonstallation spielt auch hierbei eine Rolle. Während die von Paschtunen dominierte Zentralregierung gegen jene Warlords, die von Minderheiten stammen, vorgeht, werden zeitgleich paschtunische Kriegsfürsten in Kabul wohlwollend empfangen. Das beste Beispiel hierfür ist der einstige Mudschaheddin-Führer Gulbuddin Hekmatyar.
Nachdem Ghanis Regierung mit dessen Partei Hizb-e Islami einen Friedensvertrag abgeschlossen hat, lebt Hekmatyar gesichert in Kabul und verfolgt seine eigenen politischen Ambitionen. Selbiges gilt für jene Milizführer, die einst unter ihm gekämpft haben und ebenfalls einen berühmt-berüchtigten Ruf genießen.
Teil 1: Afghanistan: Superlative des "failed state"?
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