Afghanistan: USA im Rückwärtsgang
Angeblich sollen 7.000 Soldaten zurückbeordert werden. Beobachter fürchten die "Balkanisierung" des Landes und ein Erstarken der Taliban wie auch der al-Qaida
Jahrelang wurde der Militäreinsatz der USA und der Koalition aus Nato-Staaten in Afghanistan kritisiert. Der Krieg sei endlos und vergeblich, hieß es immer wieder, auch an dieser Stelle. Nun gibt es Signale aus Washington, dass etwa die Hälfte der Truppen, 7.000 Soldaten, die Order zum Rückzug erhalten haben und jetzt heißt es: "Wenn die Taleban Champagner trinken würden, könnten sie jetzt die Flaschen entkorken."
Laut Informationen des Wall Street Journals, der New York Times, von CNN und der Military Times hat Präsident Trump das Verteidigungsministerium angewiesen, etwa die Hälfte der in Afghanistan stationierten US-Soldaten in den kommenden Monaten abzuziehen.
Selbstbewusste Reaktion aus Kabul
Die Quelle(n) für die Nachricht aus dem Weißen Haus vom 20. Dezember werden nicht genannt. Eine offizielle Erklärung Trumps dazu gibt es am Samstagnachmittag noch nicht. Die Anweisung zum Teilabzug soll nach dem Rücktritt des US-Verteidigungsministers Mattis erfolgt sein. Die Nachricht löste Verblüffung aus und unter Beobachtern der Lage in Afghanistan große Bedenken. Auch die afghanische Regierung reagierte. Dort nahm man die Nachricht nach außen hin selbstbewusst auf.
Der Sprecher des afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani, Haroon Chakhansuri äußerte sich am Freitag - in einer "Botschaft in einem sozialen Medium" dahingehend, dass der Rückzug im Falle, dass er in Gang gesetzt wird, "keinen Effekt auf die Sicherheitslage haben wird, weil die afghanischen Kräfte seit viereinhalb Jahren volle(!) Kontrolle haben".
Der Wahrheitsgehalt der Aussage wird wohl von niemandem ernstgenommen. Dagegen sprechen selbst geschönte Lageanalysen der US-Regierung. Die Äußerung will offensichtlich beruhigen und Selbstbewusstsein in einer Situation der Überraschung zeigen. Zwar sei der Schritt vorauszusehen gewesen, heißt es etwa bei den Beobachtern des Long War Journal, dennoch platzte die Nachricht überraschend in das Tagesgeschehen.
Neokonservative Beobachter: "Sieger Taliban und Sieger al-Qaida"
Die Publikation Long War Journal setzte die Ankündigung in helle Aufregung. Das Magazin, dass hier schon öfter zitiert wurde, hat ein besonderes Auge auf Afghanistan und dabei vornehmlich auf Entwicklungen der beiden Anlassgeber der US-geführten Intervention im Herbst 2001 geachtet: die Taliban und al-Qaida.
Um eine politischen Einordnung zu geben: Die Publikation ist ein Projekt des Think Tanks Foundation for Defense of Democracies (FDD), der mit Neokonservativen verbunden ist. Auch beim aktuellen Top-Artikel des Think Tanks, der Iran als Profiteur des US-Rückzugs aus Syrien darstellt, wird die politische Ausrichtung erkennbar. Beim Long War Journal gibt es viele Artikel, die auf die darauf ausgerichtet sind zu bestätigen, dass Iran der große Terror-Sponsor ist und mit Terrorgruppen wie al-Qaida oder Islamisten/Dschihadisten wie den Taliban engere Verbindungen hat.
Hier diktiert, so der Eindruck, oft der Wille zum Nachweis die Artikeltendenz, dennoch ist das Long War Journal (LWJ), wenn es um Dschihadisten und um Afghanistan geht, eine beachtenswerte Quelle, weil man dort versucht genau Buch über den Werdegang von Dschihadisten und Gruppierungen zu führen. Mancher Dschihadist, der im Syrienkrieg in vielen anderen Medien als "Rebell" durchging, wurde beim Long war Journal mit seiner islamistischen Biografie als der Radikale dargestellt, der er ist.
Auch bei der Einschätzung der Lage in Afghanistan legt man Wert darauf, weniger illusorisch vorzugehen als die US-Regierung, etwa bei den Ergänzungen zum SIGAR-Lagebericht zur Kontrolle der Distrikte.
Insofern ist die LWJ-Analyse zu den Kosten des Rückzugs in Afghanistan nicht einfach vom Tisch zu wischen. Auch wenn Vorsicht angebracht ist, etwa zur großen Rolle, die dort der al-Qaida in Afghanistan zugewiesen wird. Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen und Zweifel.
Die LWJ-Autoren behaupten dagegen, dass beide eng miteinander verbunden sind. Al-Qaida-Chef Zawahiri hat demnach dem Taliban-Führer Mullah Haibatullah Akhundzada den Treueeid geschworen und al-Qaida sorgt laut LWJ für die Ausbildung von Talibankämpfern. Entsprechend stellen Thomas Joscelyn und Bill Roggio den geplanten Rückzug der USA als Sieg der Taliban und Sieg der al-Qaida dar mit dem Risiko des Erstarkens der Terrorgefahr.
Tatsächlich erwarten wir, dass al-Qaida, wenn die amerikanischen Streitkräfte Afghanistan verlassen haben, damit anfängt, wieder einige seiner Aktivitäten hochzuhängen. Zawahiris Männer werden die Niederlage der USA als Rekrutierungstool benutzen und damit angeben, dass die USA es nicht geschafft habe, sie zu besiegen.
Long War Journal
Klar wird an diesem Zitat nicht nur der auf al-Qaida konzentrierte Blick, sondern auch, dass man bei der neokonservativ geneigten Publikation davon ausgeht, dass der Teilabzug der Auftakt zu einem gänzlichen Rückzug ist, der im Herbst 2019 erfolgen soll.
Stand der Dinge ist aber, dass faktisch noch nicht einmal der Teilabzug offiziell bestätigt wurde und die Quellen für die Nachricht aus dem Weißen Haus keinen genaueren Zeitplan für diesen Schritt bekannt gegeben haben. Aber das Signal ist in der Welt und laut der Nachrichtenagentur AP soll es Freude unter den Taliban ausgelöst haben.
Die Warlords und die Balkanisierung
Die Nachricht aus dem Weißen Haus schwäche eine ohnehin schwache Position der USA bei den Verhandlungen mit den Taliban noch weiter, lautet eine weitere Folgerung der LWJ-Beobachter. Befürchtet werden als weitere Konsequenzen die Schwächung der afghanischen Sicherheitskräfte bis hin zum Kollaps, die Wiederkehr von Warlords, womit das Risiko einer Balkanisierung Afghanistans neu erstehe sowie ein Erstarken des pakistanischen Einflusses und zuletzt auch des IS.
Zwar sei die Aussicht auf einen endlosen Krieg beunruhigend gewesen und die Rhetorik der USA viel zu rosig gefärbt, aber der Triumph der Dschihadisten, der mit dem Rückzug einhergehe, sei noch weit beunruhigender. Die kleine US-Streitmacht, die Trump noch in Afghanistan halten wolle, garantiere den Sieg der Dschihadisten.
"Die Afghanen müssen die US-Entscheidung ausbaden"
Soweit geht die in vielerlei Beziehung präzisere und auf die afghanische Wirklichkeit bezogene Analyse des deutschen Afghanistankenners Thomas Ruttig nicht, von dem das eingangs erwähnte Champagnerkorken-Zitat stammt. Bei Ruttig kommt al-Qaida nur einmal vor - im Zusammenhang mit politischer Rhetorik.
Seine ausführliche Analyse der "semioffiziell" bestätigten Nachricht über einen von Trump im Alleingang angeordneten Truppenabzug hat ein Auge auf die afghanische Bevölkerung. Sie werde die US-Entscheidung ausbaden müssen, heißt es bei ihm. Auch Ruttig sieht grundsätzlich klare Vorteile bei den Taliban (auch: Taleban). Die Entscheidung Trumps könnte Dominoeffekte auslösen, die zur Schwächung der afghanischen Regierung führen und die Präsidentschaftswahl 2019 dem Risiko eines Chaos aussetzt.
Die Taleban können sich genüsslich zurücklehnen und abwarten, ob die Kabuler Regierung zerbröselt oder zusammenbricht.
Thomas Ruttig
Auch in seiner Einschätzung heißt es, dass selbst ein Teilabzug jetzt politisch-strategisch überhaupt nicht passe. Militärisch sei noch nicht bekannt, welche Einheiten wann abgezogen werden. Dies werde aber Folgen auch für Deutschland haben. Sein Eindruck sei, dass Trumps America first-Politik Aufgaben an Verbündete delegiert, zum Beispiel bei der Ausbildung von afghanischen Soldaten.
Dass dies eine Selbstschwächung ist gilt selbst, wenn der Teilabzug zahlenmäßig dramatisch aussieht, es aber inhaltlich vielleicht aber gar nicht ist. Einiges hängt davon ab, welche Einheiten genau Trump abziehen will. Die Special Forces und ähnlich kämpfende Komponenten werden wohl im Land bleiben. Wahrscheinlich wird eher die Ausbildungskomponente ab- und Druck aufgebaut, dass andere NATO-Staaten diese Lücke füllen.
Thomas Ruttig
Anders als es der Sprecher des afghanischen Präsidenten nahelegt, bekräftigt Ruttigs Analyse die Auffassung, dass die afghanischen Sicherheitskräfte noch längere Zeit nicht in der Lage sein werden, ohne Unterstützung auszukommen. Nach Ruttigs Auffassung wird Afghanistan erneut fallengelassen.
Die Frage ist nur, wie dieses Leben aussehen wird: zunächst eine Regierung in Kabul, die intern zerstritten und oft dysfunktional ist und sich noch ein paar Jahre durchwurschtelt, solange nicht auch der Geldhahn zugedreht wird? Fraktions- oder Bürgerkrieg, also die 1990er reloaded? Oder beides, je nach Gegend? Oder akuter Zusammenbruch und ein Neo-Taleban-Regime, eventuell verstärkt durch die Seiten wechselnde Warlords, die ohnehin ebenfalls größtenteils Islamisten sind, und mit ein paar Mädchenschulen und der Verpflichtung, al-Qaeda und den IS nicht ins Land zu lassen, damit die internationalen Proteste nicht gar so laut werden?
Thomas Ruttig